Bov Bjerg: Serpentinen. (2020)

Nur mal vorab: Der Autor heißt übrigens bürgerlich Rudolf Schmidt; sein Pseudonym ist "Bov Bjerg".

 

"Serpentinen" ist ein oft schwermütiger, ja auch beklemmender Kurzroman, der eine komplizierte Beziehung zwischen dem namentlich nie genannten Protagonisten und seinem Sohn beschreibt. Und den Versuch des Vaters, die Beziehung zu retten - vor allem aber seinen Sohn zu retten und sicher auch sich selbst. Rahmen ist eine gemeinsame Reise der in Berlin lebenden in die schwäbische Heimat des Vaters. Die Mutter ist nicht nur nicht dabei, sie weiß nicht einmal davon. Der Mann hat sein Smartphone ausgeschaltet und in einer Blechschachtel ortungssicher verkapselt. Etwas Bedrohliches bestimmt die Atmosphäre. Der Vater gedenkt drohendes Unheil mit Unheil zu heilen - sozusagen.

Übrigens wird kaum eine der handelnden oder erwähnten Personen mit Namen benannt. Drei jedoch schon (Frieder, Birgit, Micha). Über diese "Herausgehobenheit" sollte der Leser also nachdenken ...!

 

Es ist eine Reise in die Vergangenheit des Mannes, geprägt von bedrückenden Erfahrungen: Vater, Großvater und Urgroßvater brachten sich um. Auch er ist von suizidalen Gedanken erfüllt, da er sich als Versager betrachtet. Obwohl die Fassade solide, gutbürgerlich, erfolgreich aussieht: Aus der Enge ("alles kleine, spießige Nazis!") der schwäbischen Kleinstadt in die Welt der Kunst und Kultur entflohen, macht er Karriere im akademischen Betrieb. Er lehrt als angesehener Professor der Soziologie an einer Hochschule. Seine Frau arbeitet als gestandene Anwältin. Minderwertigkeits- und andere Komplexe sowie Scham peinigen ihn dennoch. "Wenn ich etwas erreichte, hatte ich lediglich Glück. Wenn ich etwas nicht erreichte, war es meine eigene Schuld." Wegzug, Bildung und Aufstieg brachten keine Erlösung. Aufgestiegen zu sein, bedeutet noch nicht, auch dazuzugehören. Ziele erreichen ... "erworben und damit entwertet." Nicht-zu-Hause-Sein ... Tatsächlich erzählt er nebenher auch die Geschichte seiner geflüchteten (ja: geflüchteten, nicht vertriebenen) sudetendeutschen Vorfahren. So kommt es im Zuge seiner Suche nach sich selbst also ganz natürlich auch zu Fragen nach seiner Identität. Die ist nicht immer augenscheinlich: Wer was scheint, ist es nicht. Er listet einmal auf:

"Wale waren keine Fische,

Erdnüsse waren keine Nüsse,

Ammoniten keine Schnecken. ...

Seelilien sind keine Pflanzen. Das sind Stachelhäuter."

Sich selbst betrachtet er nur ungern als Deutscher. Lieber gibt es sich als Niederländer aus.

 

Zum Erkenntnisweg hin zur eigenen Verortung gehört auch die Szene in einer üppig ausgemalten barocken Kirche. Er ist genervt: "Jede freie Stelle musste ausgemalt, jede Lücke musste mit einer Botschaft gestopft werden. Der Chor hing voller Engel, noch in der letzten Ecke flatterte einer, damit nur niemand auf die Idee kam, die Leere anders zu füllen. Das war die Kunst von Geisteskranken ... Barock brut. Die Botschaft des Künstlers musste in den letzten Winkel hineingeschrieben werden: 'Ich war hier. Und hier war ich auch ... Es gibt mich! Ich bin!'". Ihm gefällt dort eher die schlichtere Decke: "weiße Flächen? Raum für private Notizen". Dabei wird ihm am Romanende gerade die Erkenntnis des Selbstbewusstseins "Ich bin!" die Erlösung bringen.

 

Immer wieder fragt er sich (und sein Sohn ihn): "Um was geht es?" Lange Zeit keine Antwort.

Ein Roadmovie der Rückblenden: Auf dem mentalen Rückweg zu seinen Erinnerungen, zu seinen Dämonen der Vergangenheit muss er erneut alle Kurven nehmen: beschleunigen und eben in den entscheidenden Serpentinen-Kurven bremsen. Stop-and-go durch die eigene Vita. Reflektieren, auch das übliche "Familien-Bla" hinterfragen und Durchlebtes wirklich bewältigen. Anstrengend. Schmerzhaft.

Aber dabei hilft ihm das quicklebendige Kind.

 

Ihn belasten die schrecklichen Erlebnisse seiner Kindheit, v.a. das scheinbar unausweichliche, vorprogrammierte Scheitern der Männer seiner Familie, deren und des Stiefvaters Gewalt und Trunksucht. Was sich auch bei ihm bereits ansatzweise zeigt: fast als sich selbsterfüllende Prophezeiung. Als Obsession. Denn m.E. "ist er einfach nicht so, wie 'die'."

Die Kunstverachtung, die Verachtung des "Anderen" der provinziellen Umgebung. Das - trotz Flucht der Männer in den Tod - letztlich Ungelöste / Ungeklärte / Unausgesprochene in den Beziehungen zu seinem Vater und Großvater. Das hat auch viel von etwas sehr Grundsätzlichem, das auch Weltreligionen beschäftigt (und erneut in eine angespannte Vater-Sohn-Beziehung mündet): "Die Sünden zu vergeben, darin lag die Macht des Vaters. Eine Mutter konnte man nicht darum bitten. Eine Mutter liebte ohne Bedingung. Ein Vater dagegen bestrafte oder vergab."

 

Die Reise gerät zu "eine[r] Zumutung für das Kind, ein Rettungsanker für den Mann. Es geht darum, die Wendepunkte von Biografien zu erforschen, um sich das eigene Leben erklären zu können. Und um es überhaupt auszuhalten", (Jury-Begründung zur Nominierung des Textes für die SWR-Bestenliste 03/2020). Übrigens landete der Roman zudem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Das Jahr war düster ... Viele Menschen sahen sich in der "Corona-Zeit" - ohne Ablenkung - auf sich selbst zurückgeworfen. Und im Innern sieht es dann nicht selten leer oder finster aus. Da passte offenbar so ein Trip in die eigene gequälte, bodenlos depressive Seele ... Beeindruckend gelungen!

 

Im heutigen Jahr 2023 lesend, während des Russisch-Ukrainischen Krieges, erstaunten ein paar Sätze im Umfeld eines Soziologen-Kongress in Lwiw. Mit viel Völkerfamilien-Bla. "Ukrainisch war jetzt eine richtige Sprache. Ein Dialekt mit einer Armee ... Württemberg gegen Preußen" Immerhin fühlt sich der Held hinein. So bemerkt er nachdenklich bei der Reaktion eines Ukrainers auf seine Fragen: "Er lächelte mit jener Nachsicht, mit der machtlose Staaten der Borniertheit wichtiger Verbündeter begegneten."

Zurück!

 

Der Mann sieht sich als schlechten Vater (tatsächlich kümmert er sich rührend um den Sohn) und sieht die gleiche Qual für seinen Sohn voraus. Das will er ihm ersparen. Tatsächlich plant er den Mord an ihn und seine eigene Auslöschung. Spoiler: Dazu kommt es in letzter Sekunde (den schlafenden Kinderkopf schon unter dem Kissen) nicht. - Insofern auch eine moderne Version der Abraham-Geschichte. (Beinahe-)Mördervater Abraham. (Beinahe-)Sohnes-Opfer Isaak. Stattdessen die Klärung und Erlösung, nachdem der Junge auch noch beim mutwilligen Spiel am Seil von einem Baum fällt - aber überlebt. Der schon verloren geglaubte Sohn kehrt gottseidank zurück. Die Geschichte von der Rückkehr des verlorenen Sohnes wird auch in anderen Zusammenhängen erzählt. Immer wieder begegnen biblische Wendungen.

Dabei sieht sich der Mann nun keinesfalls als Gläubigen. Sich selbst nach unverhofftem, automatischem Bekreuzigen fast ionisch von der Seite betrachtend, beurteilt er das vollzogene Ritual als "schauspielerische Geste des Apostaten". Außerdem empfindet er das Christentum schon als seltsame Institution. Beim Betrachten eines rauchenden Mönchs kommentiert er belustigt: "Rauchen durfte er, ficken nicht. Eine eigenartige Religion." ... Und: "... auf der Bank sitzen, auf den Einsatz warten und nicht lachen. Das war eine gute Vorbereitung auf das Leben. Der Gottesdienst. Die Langeweile und die Sicherheit des ewig gleichen Ablaufs."

 

Kritiker schreiben davon, dass Bjergs bisherigen drei Romanen "eine kleinbürgerliche Zwangsidylle in der Schwäbischen Provinz zugrunde" liege. Ich sah während der Lektüre mitnichten eine "idyllische" Kindheit auf der Schwäbischen Alb.

Aber schon ein Lebensthema von Bjerg? Hoffentlich nicht als "Redundanz im Sujet" herabgewürdigt von anderen, manipulierenden Kritikern … [Aus gegebenen Anlass ein gerade aktuelles anderes Thema Anfang 2023.]

 

Es ist dem Leser freigestellt, auch über einen möglichen metaphorischen Charakter des Romans zu sinnieren: Blicken wir hier auch allgemein in bundesdeutsche Abgründe? Denn der Ich-Erzähler ist ja auch Soziologe und gibt gesellschaftsanalytische Thesen kund, durchaus auch in Form rebellisch-ironischer Einlagen (Szene bei der "Juristen-Feier" seiner Gattin, eigentlich nur eine der "profiziellen" Networking-Spinnwebereien). Auch der selbstgefälligen, ach so progressiven Elite mit ablenkend-kleinkariertem Identitäts-Wahn hält er hier und dort einen sarkastischen Spiegel vor (seltsam lebensunfähige Trottel, die ihr zwischenmenschliches Verhalten vom jeweiligen Status ihrer Mitmenschen abhängig machen - und doch in den Chefredaktionen sitzen und dort polit-agitieren. Blender.). Wie z.B. in dem bemerkenswerten Gespräch zwischen dem illusionslosen schwulen Bauern Micha und dem Mann: "Wie geht es M.?" [der Ehefrau] - "Sie kann die Macht schon sehen. ... Die Schwulen?" - "Gehören zur Familie" - "Arbeiter? Bauern? Oder wie man heute dazu sagt?" - "Gibt es eh nicht." - ??? - "… Dass oben keine Frauen sind und keine Türken, das kann jeder sehen. Das gibt ein schlechtes Bild ... Aber dass da keiner von unten kommt, das kann man nicht sehen. Am Gesicht nicht und am Namen auch nicht. Und wenn man es eh nicht sehen kann, kann man sich die ganze Kosmetik sparen ... Wer soll denn die Drecksarbeit machen? Die Kinder von den Studierten? Das werden die Studierten verhindern, mit allen Mitteln ... Man kann seine Klasse nicht verlassen. Man kann sie nur verraten." - "Wer sagt das? Friedrich Engels?" - "Gerhard Schröder."

Selten so gelacht!

Der Mann denkt so nicht, gehört ja auch nicht dazu. Sonst "hätte [er] begonnen, über die ungezogenen niederen Leute wie ein pikierte Gouvernante zu sprechen ... hätte die Nase gerümpft." Gehörte zu ihnen, diesen "übertrieben selbstbewusste[n] Toren", "wie sie im Geplauder ihre Sicherheit und Eloquenz ausstellten. Es gab keine offenen Fragen, nur Postulate und Gespreize. Noch der Zweifel geriet ihnen zur Pose ..."

 

Trotz solcher Szenen: Im trostlos düster-nasskaltem Dezember 2022 gelesen, drückte mich der eher depressive Text nochmals nieder. Und so war ich eher froh, ihn überstanden zu haben. Trotz seiner Kürze. Immerhin findet er einen versöhnlichen, ja zuversichtlichen Ausgang. Denn es gibt da die Macht von Familie und Herkunft ("die statt Augen eine Meinung hatte, eine Haltung"), aber auch die Möglichkeit der Veränderung und Befreiung. Und die Chance von Erkenntnis: Der Großvater und Vater des Mannes nahmen ihn in ihrer rein ich-bezogenen, brütenden Qual, ihrem Selbstmitleid einfach nicht wahr. Er existierte nicht für sie. Er 'war nicht' und das beschädigt buchstäbliches Selbst-Bewusstsein nachhaltig. Er schien für seinen Vater "NICHTS". Aber der große Unterschied zu ihnen: "Der Junge war für mich: ALLES. ... Wir sind."