Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Erzählungen (2002-2018)


Neun Erzählungen aus Sorokins Schaffen zwischen 2002 und 2018 - für diesen Band von ihm selbst zusammengestellt. Es gehe immer um eine durch den Verfall der Sowjetunion deformierte Gesellschaft, heißt es im Klappentext. Das zeige sich beim einzelnen, privaten Menschen, im Politischen und im Zusammenleben / Interagieren der Menschen. Immer geht es um Gewalt, Erniedrigung, Zerstörung, Falschheit und Betrug. Ja, Gewalt erscheint als Medium der Verständigung zwischen den Menschen, bisweilen ersetzt es die normale Sprache völlig. "Es gelingt das Kunststück, aus scheinbar unabhängigen Einzelgeschichten ein Ganzes zu schaffen. Dabei eröffnet Sorokin einen Blick auf Russlands Gegenwart und auf eine Vergangenheit, die so vergangen eben doch nicht ist, sondern sich hartnäckig in der Gegenwart festsetzt."

Einige Geschichten spielen sich zu sowjetischen Zeiten ab, bspw. in den Vierzigern oder Sechzigern. Andere betreffen offenkundig die moderne russländische Zeit. Es entsteht ein eigenartig verstrickter Wust, ein Mischbild einer Gesellschafts-Chimäre aus sowjetischen Defiziten und Kulturverlusten und neu-russischer Gewaltfantasien und putinschen Neoimperialismus.

Bei der Lektüre dringt das Gefühl andauernder Gewalt, Erniedrigung und Irrsinn ins Unterbewusstsein. Einen Teil versteht das Herz, aber nicht immer der Verstand. Da bleibt Platz für Spekulation oder auch einfach nur Ratlosigkeit ob unverständlicher Wendungen und Exkurse. Ein Kritiker meinte, dass ihn dies auf Dauer eher ermüdet habe, zumal sich das Gefühl zu routiniert angelegter Tabu- oder Logik-Brüche des Autors einschleiche. Man erahnt mit leichter Missbilligung die "Masche" Sorokins ...

 

 

Die rote Pyramide (2018)

Sowjetunion, sechziger Jahre. Der Journalistik-Student Jura verguckt sich bei einer Recherche in die junge bezaubernde Turnerin Natascha. Auch beim dritten Treffen siezen sie sich noch sittsam. Sie lädt ihn zu ihren Geburtstag ein. Mit Sekt und Buchgeschenk macht er sich per Eisenbahn zu ihr auf den Weg. Allerdings verwechselt er den Namen des Moskauer Vororts Frjasewo mit Frasino. So landet er verärgert im falschem Zug. Ausgestiegen auf einem namenlosen Bahnhof begegnet er überraschend einem fremdartig-kühlen, unheimlichen Menschen, irgendwie nicht von dieser Erde, der alles zu wissen scheint und seltsame Ansichten hat.

Auf die provozierend-schnippische (Gesinnungs-)Frage wer Lenin sei, antwortet der Fremde, dass sei jener, der auf dem Roten Platz in Moskau die "Rote Pyramide des roten Rauschens" errichtet habe, die die Menschen mit dem Rauschen infiziert, "um deren innere Ordnung zu stören, damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein." Jura kann damit nichts anfangen, verdächtigt ihn ängstlich, ein Staatsfeind zu sein und steigt in den nächsten Zug zurück. Dennoch ist er verwirrt, Natascha besucht er nicht mehr, nie mehr.

Hat sich der Autor bisher Zeit gelassen, wird nun das "restliche" Leben Juras im Zeitrafferstil beschrieben: Beendigung des Studiums, Ehe mit einer anderen "Albina", normales - eher spießiges Eheleben, Parteieintritt, berufliche Karriere (protegiert durch seinen mächtigen Vater, der einen hohen Posten im Verkehrsministerium innehat), Verlage von "Komsomolskaja Pravda", "Isvestja" und "Ogonjok", weißer Wolga, angedeuteter missratener Sohn, den er aus einer Gruppen-Vergewaltigungs-Strafsache herausboxt …

Jura hat - vielleicht - seine Chance "Natascha" verpasst und das Leben eines stinknormalen kommunistischen Nomenklatura-Kaders mit Beziehungen gewählt. (Äußerlich nicht schlecht damit gelebt.) Und damit - vielleicht - eine vergeudete, unerfüllte, "zeitlich verrauschte" Existenz mit irrigen Zielen verbracht. Er scheint unzufrieden zu sein, innerlich zerrüttet und beunruhigt. Ausdruck dafür sind seine Herzprobleme (bzw. auch das gleichnishafte Bild des lebenslangen, ratenweisen Abschieds seines Herzens, seiner Gefühle).

Da steht er denn auf dem Roten Platz und erblickt schließlich tatsächlich die "Rote Pyramide" und wie sie pulsierend die Menschen mit ihren Wellen schlägt und schlägt und schlägt. Es ist das letzte, was der sterbende Jura erblickt, die Wahrheit erkennend: die Dummheit seines verpassten Lebens, dafür ein Leben für die ihn lange unsichtbare rote Pyramide, aber nicht sein eigenes.

So habe ich es verstanden. Zu denken gaben mir übrigens auch die Namen der für sein Leben so schicksalhaften Orte Frjasewo und Frasino, die er verwechselte. Letztlich geriet er ja nach Frasino. Ich assoziierte sogleich mit "frasa", die Phrase / Floskel … das Unechte.

 

 

Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge (2005)

Eine zunächst scheinbar idyllische Geschichte vom guten Landleben: Bauern bei der Mahd und einer üppigen Brotzeit. Allen scheint es prächtig zu gehen. Auch Kinder sind dabei. Darunter die kleine Dascha. Sie hilft hier und dort. Ein schwarzes halbblindes Pferd nähert sich. Die zunächst ratlos-irritierten Bauern versuchen es zu fangen, was jedoch misslingt. Nach dem Mittagsmahl wird das kleine Mädchen auf Beerensuche in den Wald geschickt. Schließlich folgt es einem verlockend singenden Vögelchen immer tiefer in den Wald, bis es schließlich in der pechschwarzen Finsternis des Forstes auf das Pferd trifft. Das ängstigt sie sehr. Jedoch gelangt sie glücklich zum Rastplatz und ihrer Familie zurück.

Wenn Sorokins Erzählungs-Band besprochen wird, kommt diese Geschichte fast nie vor bzw. wenn, dann wird sie als unwirkliche Geschichte angesehen: mitunter gar als Verhöhnung idealisierender Darstellungen des Landlebens. Die Story passt - nach meinem Gefühl - in ihrer Geradlinigkeit und Verständlichkeit nicht zu den anderen Erzählungen des Bandes, wo meist bizarre, gewalttätige oder erniedrigende Handlungen geschildert werden. Aber es ist sicher keine stilistische Handübung des Autors oder ein Kontrastprogramm zu den übrigen "negativ-abstoßenden" Geschichten. Keinem der Kritiker fiel der Schlusssatz der Erzählung auf, der - meiner Meinung nach - vieles erklären könnte, der Schlüssel sein mag: "'Na, lies vor, was wir morgen haben', sagte der Vater wie immer. 'Zweiundzwanzigster Juni … Sonn … tag …', las Dascha laut vor." Westlern sagt dies erschreckenderweise wenig! Jeder Belaruse, Ukrainer oder Russe hingegen kennt das Datum 22. Juni 1941: der Beginn der deutschen Invasion in die Sowjetunion! Und mit diesem zeitlichen Anhaltspunkt setzen bei mir Schlussfolgerungen bzw. Interpretationen ein: Die geschilderte Idylle wird ein sehr baldiges Ende haben! Und gegenüber dem, was nun über diese Menschen hereinbrechen wird, kann dieser Tag mit allem Recht nur ein wahrhaft glücklicher Tag genannt werden! Das halbblinde Pferd scheint ein - unschuldiger - Unheilsbote zu sein.

Zugleich irritiert, ja beunruhigt ein weiterer Gedankengang: Hier wird eine Art Glück von kürzester Dauer beschreiben: Denn wir wissen ja anhand des offenbarten Datums: Zuvor tobten erster Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg durch das Land. Wenig später folgten die Hungerjahre des Cholodomor und die Zwangskollektivierung bzw. "Entkulakisierung". (Durchaus mag der Ort der Handlung im südlicheren Russland bzw. der nördlichen Ukraine liegen: Landwirtschaft in der Taiga wird hier wohl nicht beschrieben ...) Ende der Dreißiger überrollte dann eine Welle stalinschen Terrors das Land. Die Menschen kamen kaum zur Ruhe ... Es wird also mitnichten eine irgendwie vor-sowjetische, pastorale Romantik beschrieben, wie einer der Rezensenten m.E. völlig falsch behauptete. Sondern eher ein überhell und besonders warm gezeichnetes (weil außerordentliches), kurzes Intermezzo des Glücks in einer ansonsten endlosen Aufeinanderfolge unterschiedlicher Phasen brutaler Gewalt! Dauer-Terror! Sorokin schildert hier also ausnahmsweise nicht buchstäblich Gewaltexzesse, sondern das Gegenteil davon. Jedoch die bloße Nennung eines Datums ordnet das Ganze ein und lässt mich als historisch belesenen Leser sofort mit Trauer an die vorherigen und kommenden Tragödien denken.

 


Wellen (2005)

Den größten Teil der Story nimmt eine Sexszene ein. Die als sinnliche-attraktiv beschriebene Margoscha treibt es mit ihrem eher unansehnlich-linkischen Ehemann Barmin, anscheinend einem Wissenschaftler, der an Massenvernichtungswaffen tüftelt. Und während des Sex-Akts horrende Einsatz-Ideen entwickelt: Atombomben vor der us-amerikanischen Küste zu zünden: Gigantische Tsunami-Wellen würden die Küsten erfolgreich verwüsten!

Auch Margoschas Orgasmus-Welle wird beschrieben.

Margoscha träumt nach dem Akt zudem von einem Pionierlager, in dem sie bei einem Ausflug einer unheimlichen, riesigen schwarzen Wand begegnet, die eine - fast - erfrorene Welle darstellt. Nur fast starr, denn sie bewegt sich alles erdrückend vorwärts, wenn auch nur sehr langsam brechend. Eine Vorahnung des deutschen Angriffskrieges, in dem Freunde und befreundete Familien umkommen werden.

Am folgenden Tag wird das Frühstück von Margoscha und Barmin beschrieben, das ihnen ihr Dienstmädchen bereitete: Die beiden gehören eben der sowjetischen Oberschicht an. Diese Frau hat Barnim Beispiele der neuesten Errungenschaften der vaterländischen Lebensmittelwirtschaft mitgebracht: Schmelzkäse in Folie, Milch in Tetrapacks, Smetana im Plastikbecher. Es schmeckt ihnen nicht sonderlich. Die Etiketten zeigen als Logo eine Welle.

(Immerhin ist der Welle-Schmelzkäse vergleichsweise friedlich, denke ich!)

Jeder denkt an "seine kürzlich erlebte Welle".

Viel Raum für's Spekulieren: Was will uns Sorokin mitteilen? Ohne die Einbettung zwischen die benachbarten Erzählungen dieses Bandes schwerlich zu klären! Außer: drei oder vier unterschiedlich geartete "Wellen" im Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit und Unnatürlichkeit, vermeintlicher und echter (gewalttätiger) Perversion usw. Und Krieg! Ansonsten leichte Ratlosigkeit meinerseits.

 

 

Das rostige Mädchen (2018)

Ein hübsches junges, unschuldig-aufrichtiges Mädchen läuft durch die Stadt ... und quietscht, als sei es eingerostet. Und das gehört sich nicht.

Es gäbe mechanische Abhilfe, den "Blocker", den sie sich aber nicht leisten kann.

Doch da gibt es ja noch von "Orientalen" betriebene Trödelläden, wo man die "abblockende Maschine" billiger haben könnte. Einen so niedrigen Preis, wie das Mädchen zu bezahlen vermag, kann ihr jedoch auch der gütig erscheinende Ladenbesitzer Ali nicht anbieten. Doch er hat eine Lösung: Diese Europäer! Der Kauf einer Maschine sei gar nicht nötig, sondern nur eine gute, regelmäßige Schmierung! Sein etwas schüchtern wirkender Sohn Abdullah steht dafür zur Verfügung: mit eigenem Öl-Kännchen und hervorragendem weißen Schmierfett nimmt er sorgfältig die (wöchentliche) Prozedur vor. Dafür muss das naive Mädchen nur vergleichsweise wenig bezahlen ...

Man möchte lauthals lachen und weinen zugleich.

Immerhin ist die junge, "geschmierte" Frau zufrieden (das Quietschen hört auf) und kehrt selbstsicherer in die Alltagswelt zurück, "wo es so düster und dreckig war wie zuvor".

Kopfschütteln: Hier werden so einige gängige Klischees kreativ ins Gegenteil verkehrt: Die umgebende Gesellschaft brandmarkt das doch sittliche Mädchen als schändlich. Abhilfe schaffen Araber, die hier aber nicht (wie sonst häufig) als dauergeile ausbeuterische Zuhälter gezeichnet werden, sondern als gutmütige Helfer. Die Frau ist nicht etwa Prostituierte, sondern bezahlt sogar für die zufriedenstellende "Dienstleistung". Dennoch wird das Unterbewusstsein des Lesers auf die bittere Realität gelenkt

Alles nicht so schlimm? Alles weder Weiß noch Schwarz?

 

 

Der Fingernagel (2018)

Der erste "Star" unter den Erzählungen des Buches, den wirklich jeder Buch-Rezensent enthusiastisch erwähnt und beschreibt. Wohl, weil für einen Westler am zugänglichsten, halbwegs verständlichsten. Folglich trumpft das Kritiker-Individuum laut triumphierend mit "Begreifen" auf und schwadroniert dann - Eulen nach Athen tragend - über das Offensichtliche und wettert sozusagen "mutig aus dem Blumen-Cafe heraus" gegen die Zustände im heutigen Russland. Geht dann aber verdächtiger Weise gar nicht auf die anderen Erzählungen ein, da "das tapfere Kritiker:in" mit jenen offenbar überhaupt nichts anzufangen weiß, nicht deuten kann.

Familie Bobrow lädt die Ehepaare Frajerman und Semjonow zu sich zum Abendessen ein. Ein gelungener, kultivierter Abend - hätte es werden können. Aber selbst die Kultur ist in Russland nur Schein und "als ob" (Achtung: Spoiler-Hinweis auf die nächste Erzählung ...). Frau Frajerman stellt in einer Pause fest, dass auf der Toilette kein Clopapier vorhanden ist. Dem schließt sich am Tisch ein erst ironischer, dann immer sarkastischer, schließlich hochaggressiver Disput an. Denn Frau Bobrow erklärt - zunächst souverän ruhig erscheinend und von ihrem Mann sekundiert - dass Clopapier entbehrlich sei. Was die Frajermans zunehmend entrüstet als Kulturlosigkeit ablehnen. Was wiederum die Bobrows veranlasst, den Frajermans zu unterstellen, deren "Protzerei" über ihr - angeblich - sauberes Po-Loch sei doch nur Ablenkung von etwas, was verborgen werden solle. Nun wird es derbe. Frau Frajerman zieht blank und beweist die Sauberkeit ihres Anus, Frau Bobrow kontert mit ihrem sauberen (zudem schöneren) Po: Es geht auch ohne Papier! Die unbeteiligten Semjonows nehmen eine neutralere, zumindest friedfertigere Haltung ein, verweisen aber auf einen Clo-Wandspruch aus dem Institut: "Wer sich mit Fingern wischt den Arsch, dem bläst Europa bald den Marsch!".

Genau so ist es!

Zunächst herrscht Waffenstillstand, aber der Sohn der Bobrows Garik kann sich nicht enthalten anzudeuten, dass Frau Bobrows Gesäß unschön aussieht: Dank des vorherigen Körpereinsatzes beider Damen kennt er nun den "Unterschied zwischen Po und Arsch". Daraufhin eskaliert die Lage und der Abend läuft nun völlig aus dem Ruder: Krieg! Die folgenden Seiten lesen sich wie eine Splatter-Komödie: Roheste Gewalt, das Blut spritzt. Herr Frajerman wird den Abend nicht überleben. Er wird schließlich vom Balkon geworfen. Ob seine Frau die schweren Schläge mit der kristallenen Salatschüssel auf ihren Schädel überlebt, ist unklar. Jedenfalls zappelt sie irgendwann nicht mehr. Semjonows bemühen sich vergeblich, den Streit zu schlichten, mischen sich dann eher zugunsten der Frajermans ein. Bekommen aber ebenfalls auf die Fresse und fliehen.

Nach der Bluttat flüchtet der entsetzte Sohn aus der Wohnung, irrt durch die Stadt zum Bahnhof. Dort beobachtet er eine hakennasige, schwarzhaarige Familie, die auf einen Zug wartet. Der Vater wird beschrieben, wie man sich einen kaukasischen Straßenschläger so vorstellt - inkl. vier goldenen Schneidezähnen und spitzgefeilten dolchartigen Fingernägeln. Angsterfüllt schreit Garik auf und wird vom drohend aggressiven Mann zum Schweigen gebracht: "'Wenn du hier rumbrüllst, mach ich dich platt.' ... Dabei malte sein Nagel eine liegende Acht in die Luft." Die liegende Acht symbolisiert die Ewigkeit, wie wir wissen ...

Garik, dessen nur äußerlich souveräne kultiviert-zivilisierte, tatsächlich aber aggressiv-barbarische Familie gerade andere Kulturmenschen "platt machte", ist nun auf eine noch sinistere, noch primitivere, brutalere Kraft gestoßen, der auch seinesgleichen nichts entgegenzusetzen hat!

War es ein Mangel an Clopapier, den die Bobrows erst peinlich berührt weglächeln wollten und dann erst über den öffentlichen, demütigenden Hinweis darauf bis zur Weißglut ergrimmte? Der schöne Abend vertan, der zur eigenen vollen Anerkennung als gleichwertiger Kulturmensch hätte führen können!

Oder doch die feste Überzeugung der Bobrows, es auch ohne derartigen vermeintlichen Kultur-Firlefanz (aus Europa) gut zu haben?

Auch ein schönes Bild zweier Kulturkreise: Sich gegenseitig die Sauberkeit seines jeweiligen Po-Lochs zu beweisen. Wobei die (westlicheren?) Frajermans zwar kulturvoll und durchaus sauber rüberkommen, allerdings auch mit "ältlichem Fettarsch" ...

Ich fühlte mich an Luis Bunuel erinnert: "Der diskrete Charme der Bourgeoisie". (Zufälligerweise werde ich gerade morgen, am 28. März 2022, das Theaterstück im Schauspiel Frankfurt besuchen ...) Oder auch an "Das große Fressen" von Marco Ferreri. Nur geht es hier sicher nicht um eine dekadente Bourgeoisie, sondern um eine dekadente Gesellschaft insgesamt!

 

 

Lila Schwäne (2017)

Der zweite "Star" der neun Erzählungen. Vergleiche die vorige Story. Das westliche Rezensenten-Individuum versteht auch hier mal etwas und packt das sofort freudig in sein Schaufenster.

Der russische Staat benötigt dringend Hilfe! Und zwar von dem wundertätigen Kloster-Eremiten Pankrati. (Da schon ganz andere Kapazitäten versagt haben.) Was ist passiert? Sämtliche 44 strategischen Atomraketen (mit je 10 einzeln lenkbaren Gefechtsköpfen) haben sich unerklärlicherweise in Zuckerhüte verwandelt! Nun sind Sicherheit bzw. Existenz des russischen Vaterlands akut bedroht.

Eine ranghohe Delegation aus Staatssekretären, Generälen usw. wird entsendet, den seltsamen Mönch zur Hilfe zu überreden. Ihre Reden sind voller patriotischem Pathos. Tatsächlich jedoch verachtet z.B. der General die russischen Normal-Bürger (debiles Untertanen-Pack), die in ihn und seine Gruppe große Hoffnungen setzen, den Wundertäter zu bewegen, einmal mehr Russland zu retten. Am liebsten würde der angeekelte General mit Kanonen auf die Leute schießen lassen und zu Frau und Kinder in die angenehmeren Palmwedel-Länder gehen ...

Die blasierten, wortgewaltigen Feiglinge (ohne wirkliches Interesse an der Heimat) schicken schließlich den jungen, geistig beweglichen Assistenten Alex vor, der wahrhaftig glaubt, diesen Dienst am "Mutter Heimat" leisten zu müssen. Obwohl ausgerechnet er weiß, dass die Atomwaffen doch das einzig Reale in diesem Lande darstellten, alles andere nur Trug und Schein ist:

"'Vater Pankrati, ... hört mich an! Ihr wisst, wo wir alle leben, in welchem Land, welchem Staat. Hier ist alles, als ob. Ruhe – als ob, Freiheit – als ob, Gesetze – als ob, Ordnung – als ob, ein König – als ob, Bojaren – als ob, Knechte – als ob, Adel – als ob, Kirche – als ob, Kindergarten – als ob, Schule – als ob, Parlament – als ob, Gerichte – als ob, Krankenhäuser – als ob, Fleisch – als ob, Flugzeuge – als ob, Wodka – als ob, Business – als ob, Autos – als ob, Fabriken – als ob, Straßen – als ob, Friedhöfe – als ob, Rente – als ob, Käse – als ob, Frieden – als ob, Krieg – als ob, Heimat – als ob. ... Echt ist bei uns nur dieser Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine große Leere.'"

Der Erlöser in spe Pankrati kann immerhin Hostien in Stein verwandeln (zu welchem sinnvollen Zweck auch immer - Wasser in Wein oder ein Brotlaib in zehntausende zu verzaubern erschiene mir hilfreicher ...). Und er mauert sich seine Zelle mit Stein und eigener Scheiße zu. Ja, auch das ein schönes, geradezu prophetisches Bild Sorokins. Denn auch hier kommen mir angesichts der aktuellen Invasion der Putin-Armee in die Ukraine und dem suizidalen Selbstausschluss Russlands aus der Weltgemeinschaft zwangsläufig Vergleiche in den Sinn: Der gemeine Russe bringt es durchaus fertig, sich mit Enthusiasmus und mittels eigenproduzierter Scheiße vom Rest der - vermeintlich so bösen - Außenwelt zu isolieren und einzumauern!

Alex wird erfolglos bleiben.

Das folgende ist mir unverständlich: eine gewohnt saftig-sorokinsche Sexszene und eine die Erzählung abschließende Beschreibung einer Szene, in der 22 lila Schwäne auf dem morgendlichen Ionischen Meer (vor Griechenland!) erwachen, Ithaka, die Heimat des Odysseus in Sichtweite. Sie starten und ziehen in Keilform (wie ein Bombergeschwader ...) in Richtung Norden. Wo auch Russland liegt, das auf seiner ganz eigenen, quälend endlosen Odyssee irrlichtert ...

Und wann endlich und wirklich heimkehrt?

Alles Imitat ohne Inhalt, scheinbare Fülle und doch nur Leere. Diese bildhafte Beschreibung des modernen Russland hörte ich schon von anderer Seite. Das religiöse, zarische Russland, die Sowjetunion (und auch andere Staaten) konnten und können sich immerhin auf eine starke Ideologie stützen. Dieser Kern fehlt jedoch dem Putinschen Staat. Wie selbstbewusst laut schwadronierend, vordergründig bunt, reich und kraft-protzend es auch daherkommen mag: Es ist innerlich leer.

 

 

Der Tag des Tschekisten (2018)

Die zwei ehemaligen KGB-Mitarbeiter Mark und Iwan sitzen sich gegenüber, trinken und fragen sich gegenseitig über ihr Tun während ihres Berufsleben aus. Unschuldige verhaftet? Geständnisse herausgeprügelt? Geiseln genommen? Provokateure eingeschleust? Den Bauern das letzte Getreide genommen und verhungern lassen? Krimtataren deportiert? An Massenerschießungen teilgenommen? … Die Anzahl der Verbrechen ist so ungeheuerlich, so unvorstellbar, dass weitere horrende, bizarre Untaten nicht mehr unmöglich erscheinen und man getrost überzeichnen kann: "Und das Hirn von Großfürsten gebraten? Hast du das Blut der Monarchisten mit dem Strohhalm getrunken?" Auch das ist den Kerlen zuzutrauen! Immer wieder werden die Fragen unterbrochen mit der selben Zwischenfrage "Und schämst du dich nicht?" - worauf stets ein "Nein" antwortet, heruntergeschluckt mit Wodka und Gurke.

Gewissen, Reue, Reflexion kennt keiner von beiden. Dennoch sehe ich hier nichts "Entlarvendes", wie einige andere Rezensenten oder Kritiker. Was gibt es an Offensichtlichem schon zu entlarven?! Ich hatte längere Zeit nicht den Eindruck, dass es die beiden mit besonderen Stolz oder Prahlerei erzählen würden, sondern eher müde-abgestumpft. Spätestens in der zweiten Fragerunde allerdings, diejenige mit den Horror-Taten, wandeln sich die kurzen, nüchternen Antworten zur zynischen, phantasievoll "ausgeschmückten" Ironie. Man schaut belustigt auf das eigene "Werk" zurück. Es war "lustig"!

Interessant wird es, als im abschließenden aber umfänglicheren Teil der Erzählung Mark ausführlich von einem Schlüsselerlebnis aus seiner Kindheit berichtet: Im Pionierlager war er Zeuge von Kindesmissbrauch bzw. Vergewaltigungen eines Pionierleiters an jungen Mädchen. Eine dieser Szenen beschreibt er seitenlang. Typisch Sorokin. Aber natürlich nicht als Pornografie, sondern als erbarmungslos nüchterne Beschreibung einer gewaltsamen, für das Mädchen erniedrigenden und schmerzhaften Untat. Sorokin ist einfach unendlich wütend und verächtlich. Als das Mädchen anschließend schwört, das nie wieder mit sich machen zu lassen, wird der Pionierleiter direkt und droht ihr, das Leben zur Hölle zu machen, ihr die Zukunft zu nehmen, wenn sie sich nicht fügt. Er erklärt ihr in aller Rohheit das Leben in der Sowjetunion: Wer sei wohl an der Macht?! Andropov, ein KGB-Mann! Und viele weitere seinesgleichen. Auch sein Onkel sei dort beschäftigt. Damit verfüge auch er über Macht, die Macht, ihre Karriere zu befördern, wenn sie sich untertänig gibt oder sie zu zerstören, wenn sie Widerstand leistet. So läuft das!

Der kleine Mark kehrt ins Jungenzimmer zurück, legt sich schlafen und träumt. Es ist einer jener Träume, die man teilweise steuern kann und wollüstig genießt, weil man begreift, dass man ungestraft ALLES mit einer anderen Person machen kann!

Schon am folgenden Tag wird Mark ein anderer sein. Er hat begriffen, wie er hier leben muss, wohin er sich zu wenden hat, um ungestraft tun zu können, was er will und mit den Mächtigen zu sein.

 

 

Das Tuch (2018)

Eine Ehefrau berichtet ihrem Ehemann in einer Art Bolemie-Rausch von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit. Da gab es in der Schule ein seltsam stolzes, unnahbares halb-kasachisches Mädchen Scharban. Einmal lud es sie zu sich nachhause ein und gemeinsam schauen sie sich ein Porno-Video an: "Manuella". Schließlich entkleiden sich beide, die Erzählerin vermutet ein lesbisches Spiel und würde sich dem auch gleichgültig hingeben. Aber Scharban bittet sie, ihr ein Tuch um den Kopf zu binden und dieses immer fester zu ziehen - bis zum (wollüstigen) Schmerz. Ob es wirklich sexuelle Wollust ist oder eine reine Lust am Schmerz, ist nicht wirklich sicher. Jedenfalls wird das Mädchen nach seinem "Dienst" nach Hause entlassen.

Jahre später bei einem Klassentreffen (an dem nur die Frauen teilnehmen) erfährt sie, dass Scharban nicht mehr lebt. Ihre Familie wurde in einem Bandenkrieg in Krasnodar ausgerottet. Man stößt auf sie lachend und staunend an, zumal sich zeigt, dass nahezu alle Mädchen das bizarre Erlebnis mit ihr hatten. Gedanken über den möglichen Hintergrund macht sich niemand … Nur eine mit Verwunderung bedachte, aber letztlich dann doch unreflektierte Anekdote aus der Schulzeit …

Aus gegebenen Anlass März 2022: Zombie-Russländer machen sich selten Gedanken über offensichtliche Abgründe und ziehen daraus schon gar nicht Schlussfolgerungen für vernünftiges, engagiertes Handeln!

(Der Buchstabe "Z", urspr. ein militärisches Zeichen, ist inzw. DAS propagandistische Symbol des russischen Krieges gegen die Ukraine. Bin ich einverstanden: "Z" wie "Zombie"!)

 

 

Hiroshima (2002)

In mehreren kurzen Kapiteln werden unterschiedlichste Würgeszenen zwischen verschiedenen Menschen beschrieben: Zwei Mittelständler gehen sich in einem guten Restaurant an die Kehle; dann sind es zwei Säufer in einem heruntergekommenen Abbruchhaus; dann zwei Schwule aus der kreativen Szene im Bett - im Zuge einer lustvollen Perversion; zwei alte Dörflerinnen bringen sich mit dem Strick zu Tode; schließlich interpretieren zwei kleine fünfjährige Mädchen das unüberhörbare Liebesspiel der Eltern als gegenseitiges freudvolles Würgen. Wovon man Kinder bekommt. Das probieren sie dann ebenfalls aneinander aus …

Außer Rand und Band.

Die Erzählung beschließt die nüchterne Analyse, dass jeweils der eine Part der Würgenden nichts Besonderes sah oder empfand. Der jeweils andere hingegen sah Farben, Leuchten, Lichtblitze und dergleichen. In diesem Leuchten ersteht die Vision des soeben vom Atomblitz getroffenen Hiroshima und seiner verbrannten Menschen. Und auch einer verbrannten, sterbenden Hündin, die noch zwei treuherzige Welpen gebären kann. Eine junge Frau nimmt sie an sich um sie an ihrer Brust zu nähren.

... Ich habe das Bild, dieser Metaphorik leider nicht verstanden …

 

Immerhin bleibt die Atmosphäre einer kranken, deformierten-verirrten, gewalttätigen und erniedrigenden Gesellschaft.