Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner (2024)

Ein weiterer Kandidat auf der Shortlist des Deutschen Buchhandels für dessen 2024er Buchpreis. Von 6 Kandidaten las ich nun 3 und bin erstmal durch ... Diesen Roman empfand ich wider Hoffnungen und Erwartungen letztlich als das Werk mit dem schwächsten Eindruck bzw. Nachhall.

 

Dabei sah es zunächst so gut aus: Die Buchvorstellung Anfang Oktober im Schauspiel Frankfurt (Interview plus Lesung) versprachen viel. Ein junger, unroutiniert, so gar nicht selbstverliebter, eher schüchterner Autor und die skizzierte Story. Da ist die Lüneburger Heide. Heute ein naturidyllischer Sehnsuchtsort mit hügeligen Weiten, endlosen rot-violetten Erika-Heiden unter blauem Himmel, wie landschaftsgärtnerisch platziert wirkenden Wacholderbüschen, düsteren Waldesrändern am Horizont und natürlich gemächlich wandernden und glöckelnden Heidschnucken-Herden. Ein Wander-Paradies.

 

Bis vor 100 Jahren galt es schlicht als ertrag-arme, unheimliche Ödnis, wo sich Geister und Wölfe ihr Unwesen treiben. Bisweilen umging man lieber diese karge Landschaft, als sich den Weg quer hindurch abkürzen! Von einem verwunschenen, öden Ort zum Romantik-Ort. Interessant, dass Thielemann also den ursprünglich eher unheimlichen Charakter wiederaufnimmt und in Teilen eine Gespenstergeschichte beschreiben will.

 

Da ist der 19-jährige Hirte Jannes Kohlmeyer, der irgendwie nicht von hier wegkommt und eine größere Herde Schafe und ein paar Ziegen über die Heide führt. Von Hirten-Romantik muss er sich von städtischen Gelegenheits-Spazierern und hier feiernden Hipstern dozieren lassen. Was von der Beschreibung seines Alltags beim Leser hängenbleibt ist ok aber keineswegs romantisch: Harte Arbeit, da unter jedem Wetter zu verrichten, bleierne, nervige Bürokratie bei der Organisation (um das Gewissen von "Darstellungs-Politikern" zu befriedigen (N'tschuldigung!)) und Stress, Frust, Trauer, wenn es gilt, die Tiere vor Stress, Krankheiten und Beutegreifern, wie dem zurückkehrenden Wolf zu bewahren). Hinzu kommen familiäre Probleme: Eine große Rolle im Roman nehmen die Demenz von Großmutter Erika und beginnend auch beim (nicht leiblichen) Vater Friedrich ein. Die meiste Verantwortung liegen also bei Jannis bzw. sogar dessen (viel redenden aber letztlich ahnungslosen) Großvater Wilhelm und der Mutter Sibylle.

 

Die Lüneburger Heide als Ort von Un-Geistern. Da erzählen sich die Freunde bei einem ihrer gelegentlichen Sauf-Abende Schauergeschichten und erinnern an regionale Hexen, Gnome, Werwölfe usw. Und wer wo spurlos verschwand. Da kehrt der Wolf zurück. Ein riesiges Thema bei der Bevölkerung und besonders bei den Tierhaltern. Zunächst durchaus rational wirkend: es scheint keine wirklich greifenden Hilfen zu geben: Zäune würden unterbuddelt, bzw. auch der Stress vorbeistreifender Wölfe würde bei den Schafen zu Fehlgeburten oder "Infarkten" führen. Es gibt lautstarke Proteste. Diese werden befördert und organisiert - im Roman etwas kopfschüttelnd beschrieben: ausgerechnet von objektiv halbdementen Landwirten (der Vater von Jannes), meinungsstarken Leuten, die nichts mit Landwirtschaft zu tun haben (es gibt eben verdammt wenige Tierhalter in der Lüneburger Heide ...!) und neu hinzugezogenen, deutschtümelnden und naturromantischen - "Nebenerwerbs-"Landwirten aus Hessen, wie der Familie Röder. Die offensichtlichen Ingrimm gegenüber der deutschen Politik hegen. Könnten Wutbürger, Reichsbürger, Faschos sein. Wolfsangel, fremdenfeindliche Kommentare, mehr Liebe zu Trachten und Sonnenwendfeiern als ... zur rationalen, praktischen, engagierten Arbeit in der Land- oder Forstwirtschaft oder im Handwerk usw. ...

 

Im Hintergrund sind da die großen Truppenübungsplätze der Bundeswehr, aber auch Testgelände für neue Waffensystem von Rheinmetall & Co. (Eine bitter bezeichnende Konstante in der Geschichte dieser Landschaft: Zurzeit des 3. Reichs waren diese deutschen Waffen-Konzerne auch schon hier - mit KZ-Zwangsarbeitern!) Da rollt nicht etwa Gewitter-Donner vom Norden her über die Heide: An einer Stelle wird kurz explizit beschrieben, wie es lautlos blitzt. Dafür dröhnt regelmäßig der Donner abgefeuerter Test-Panzermunition über das Land. Der Donner der "dräuenden" Menschen ist realer und handfester als der meteorologische, natürliche.

 

Ähnlich sieht es mit den Wölfen aus: Viel Gerede, viele Emotionen, viel Aufwand um sich vor dem gefürchteten, reißenden, blutrünstigen Monster zu schützen. Tatsächlich wurde noch nicht mal deutlich ein einziger Wolf gesehen (nur Gerüchte) und offenbar auch kein Schaf eindeutig vom Wolf gerissen. Ein Phantom! Dafür verdichtet sich im Verlauf der gemächlichen Romanhandlung der Eindruck, dass da eher menschliche Wölfe (im Schafspelz) hinzuziehen und ihr handfesteres Unwesen treiben. Und dass es dort schon immer Leute gab, wölfische Herrenmenschen, die ihr Unwesen trieben und die ursprüngliche Natur gar sehr, sehr liebten und schützen wollten, die aber KZ-Außenlager errichteten und dort Menschen bis zum Tode knechteten, oder die auch nach dem 2. Weltkrieg mal eben kurz das "Recht" in ihre bewaffnete Hand nahmen, um den letzten diebischen Wolf Deutschland zur Strecke zu bringen. Eine Sondergenehmigung der Briten machte es möglich.

Tatsächlich wird über alles Mögliche unter den Leuten schwadroniert: Geistergeschichten, Heldensagas (des Großvaters) über den Abschuss des letzte Wolfs-Monsters. Aber über die KZ-Außenlager (des Hauptlagers Bergen-Belsen) wird ... nichts gesagt, ist ein Tabu-Thema auch in engster Familie. Da gibt es nur noch seltsam glatte bemooste Betonflächen in einigen Wald-Arealen und Fundament-Reste, sehr wenige Notizen und Dankschreiben überlebender Häftlinge, wenn sie von einigen damaligen Zeitgenossen auch geschützt wurden (tausende andere offenbar nicht), in der Demenz in deutschen Pflegheimen geäußerte verwirrte Gedankenfetzen, die von unverarbeiteten, ja verborgenen Traumata künden. Und es gibt vertuschte Morde! Ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass Großvater Anfang der Fünfziger nicht etwa den letzten Wolf abknallte, sondern einem Menschen! Und er ahnte es, sprach aber nie darüber, sondern pflegte - Schuld und Verarbeitung verdrängend wie ein Großteil der deutschen Bevölkerung - seine Heldenpose: Da war er noch wer. Die pflegt er noch intensiver - als ansonsten noch durchaus rüstiger Greis - permanent wiederholend und neu ausschmückend im hohen Alter.

 

Und diese düstere Geschichte durchzieht als ECHTE Schauermär den gesamten Roman. Jannes sieht eine geisterhafte Frau auf Heide und im Wald - mal im trunkenen, mal im kränkelnden, mal im stress- oder emotional aufgewühlten (TV-Team vor Ort) Zustand. Zunächst außerordentlich unheimlich und angsteinflößend, kann sich der im Nachhinein informierte Leser fragen, warum eigentlich?! Denn die Figur mag anfangs hexenhaft und bedrohlich erscheinen, nüchtern betrachtet, verhält sie sich aber stets lautlos, passiv, friedlich, eigentlich schutzbedürftig (die nächtliche Begegnung auf einen Kohlenmeiler-Haufen - Metapher für Hexe und Scheiterhaufen?!)) aber zuletzt gar beschützend! Sie muss wohl "Rose" heißen. Nur Jannes vermag sie zu sehen und sowohl seine im Pflegeheim dahindämmernde Großmutter Erika, als auch sein Großvater scheinen sie zu kennen: da war irgendetwas in der Kriegs- oder Nachkriegszeit. Auch darüber wird geschwiegen oder - wenn kein Weg vorbei führt - sogar die "Story" extrem verfremdend verfälscht. Denn Großvater erschoss im trunkenen Zustand Rose, wohl kein vertriebener Flüchtling aus Deutschlands Osten, sondern eine Z-Insassin des regionalen KZs! Also eine Roma (Zigeuner), die aus irgendwelchen Gründen (entwurzelt? Chance auf anonymen Neubeginn?) hier blieb und es als junge Frau im Überlebenskampf vielleicht mit Besitz oder "züchtiger deutscher Moral" nicht ganz so ernst nehmen konnte. Und den Besitz oder die Allein-Macht regionaler Herrscher und "herrenhafter Wohltäter" wie dem gottgleichen, junker-ähnlichen Karl Teusch nicht voll und unter größter Demut zu achten, dass galt als unanständig. Diese galten als unruhige "Untermenschen", die sich in der kruden Fantasie der regionalen Knechts-Menschen mit Assoziationen über den Wolf verbanden (Raubtier, Dieb, respektlos, TIER, unbeherrschbar, wild, fremd). Und die darf man offenbar wie Wölfe abschießen! (Karl Teusch - sprechender Name für "deutsch" und "täuschen, betrügen"? - korrespondiert nicht nur namentlich mit Karl Röder, dem neuen neurechten Nachbarn der Kohlmeyers.)

Der vermeintliche Wolf wurde damals angeschossen, auch Blut gefunden, aber - wie üblich - nicht nach dem Verbleib geforscht. Rose muss sich irgendwohin geschleppt haben und dann elendig verendet sein. Vielleicht in der dunklen trostlosen Scheune mitten auf der Heide, die immer wieder erwähnt wird, und wo Jannes auch andere, vermeintliche Tierknochen fand (Katze). So machen es die Heide-Bewohner u.a. selbst-ernannte bewaffnete "Natur-Heger" auch heute: unerwünschtes, dämonisiertes fremdes "Ungeziefer" abschießen. Gern tödlich treffen, weiterziehen und verrecken lassen. Zwanzig Kilometer weiter könne kein Jäger, kein Ordnungshüter mehr eindeutig nachweisen, wo und von wem der Wolf niedergestreckt wurde.

Der ehemalige "Herr Junker" (auch wenn er formal keiner mehr war) wird dem Großeltern-Paar als Dank für das Schweigen die Hochzeitsfeuer ausrichten und mit einem (in der kargen Heide guten) stabilen Job ausstatten: eine Schafherde zu hüten und zu vermarkten und somit die "schöne, ursprüngliche Heide" offen zu erhalten. (Eigentlich künstlich: sie würde wohl über die Jahrzehnte von Kiefer-Wäldern überwuchert. Nicht mal die Heide ist echt bzw. "natürlich". Sondern schlicht alte menschliche Kulturlandschaft - das Beste, was die Menschen lange Zeit aus diesem Boden herausholen konnten.)

 

Jannes wird dieses schreckliche düstere Familien-Geheimnis erst ganz zum Schluss voll und ganz erkennen. Und er ist entsetzt, wird sich an der Viehtränke übergeben (muss kotzen!) und wird den Großvater schweigend verachten. Wie es weitergeht, ist ungewiss. Die Familie, die Wirtschaft scheint im Niedergang: die Landflucht der älteren Schwester nach Frankfurt, die Krankheiten und die Realitätsflucht von Familienmitgliedern (die sich nicht auf alte und neue Realitäten einstellen können), die Veränderung des Tierhalter-Jobs hin zu einem eher unwürdigen Schafsherden-Darsteller, ja Lokalkolorit-, Kulissen-Objekt für Fotos von Öko-Touristen scheint auch nicht sehr attraktiv zu sein. Wo bleiben neue, rationale Geschäftsideen?!

 

Ein überhaupt nicht romantisierender "Heimat-Roman". Spielt bezeichnender Weise 2014/15. Da kehrte nicht nur der Wolf zurück. Sondern seither erstarken die echten Wölfe von rechts: Pegida, AfD & Co., immer offener vorgetragene (bewaffnete) Aggressivität gegenüber Fremden und der Auszug völkischer Leute aufs Land, die es somit de facto schleichend okkupieren, das Klammern an "gute, alte, natürliche deutsche Werte" (anpassungsfeindlich und -unfähig, weltfremd und verlogen). Da laufen keine Skinheads grob-plakativ herum, aber Familien in seltsam altmodische Trachten und Frisuren, mit Wolfsangel-Symbolen. Mit verworrenen Ansichten, grober Sprache, offensichtlichen Erinnerungslücken. Und mit unpassenden, unproduktiven, nichtpragmatischen Ideen, Leben und Erwerbstätigkeit neuen Herausforderungen anzupassen! Scheinlösungen als wenig nützliche Lebenslügen. Auf den oft unkritisch hingenommenen Heidedichter Herman Löns hat es der Autor besonders abgesehen: ein Antisemit, dessen Dichtung und Werk die Nazis für ihre üble Propaganda bewusst übernahmen. Ideologie. Nordische Ideologie, von völkische Rechten missbraucht. Da rollt es grollend wieder heran, der Donner.

Generationenkonflikte, Lebenslügen, Eskapismus.

Zum Schluss, in der Beschreibung eines letzten Bildes von Schäfer Jannes und seiner Herde, heißt es poetisch: "Und dann drehen sie die Köpfe, blicken zurück, genießen noch einmal das langsam in der Ferne schwindende Bild: Er ist noch zu sehen, der einsame Hirtenknabe, rastend mit Hund und Herde, wie auf einem Barockgemälde. Wie er dort kauert, im Schatten des Immergrüns, im Schlamm vor der langen Tränke, könnte er ein Trauernder sein, am Grab, versunken in die Entzifferung einer obskuren Inschrift." Ein Roman also auch über das Lesen von Zeichen! Da gibt es noch Spuren! Da gibt es untrügliche Indizien über den Charakter von neuen Erscheinungen und menschlichen Verhalten. Seht hin! Und: Wir müssen uns anpassen, ändern. Wie auch der doch noch so junge und jetzt erfahrene(!) Jannes wohl nicht daran vorbeikommt, sein Leben, seinen Job zu ändern.


Von daher galt der Roman einigen Kritikern als eher sehr leiser, subtil wirkender Kandidat für den Deutschen Buchpreis. Den er ja schließlich doch nicht erhielt. Auf mich machten andere Kandidaten einen größeren, bleibenden Eindruck. Gleichwohl mit gewisser Atmosphäre und einigen wichtigen, zart und m.E. unaufgeregt, eben "norddeutsch" vorgetragenen Botschaften. Wohltuend, dass nicht hochnäsig, mit pädagogischen Zeigefinger geschrieben wird, nichts ausformuliert wird. An anderer Stelle dann doch wieder sich verlierend in dahinplätschernden Beschreibungen, die sich irgendwann quälend dehnend hinziehen. Atmosphäre ja, Spannung leidet.