Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. (2006)

Es passiert etwas Unbegreifliches: Von einem Tag auf den anderen verschwindet alles menschliche und tierische Leben auf der Erde. Am 3. Juli erwacht der Mittdreißiger Wiener Einrichtungsberater Jonas als wohl letzter Mensch. Kein Mensch, kein Vogel, kein Insekt weit und breit, nur Stille.
Das Ereignis wird nicht geklärt, es ist einfach passiert.

Es beginnt ein vierhundertseitiges, schier unendliches literarisches "Roadmovie", eine teils monotone, sich in ihren Details ständig wiederholende Beschreibung der folgenden anderthalbmonatigen Lebens-Odyssee des einsamen Protagonisten. Es gibt keine Gesprächspartner, keine Selbstgespräche - also keine direkte Rede - nur die Handlungsbeschreibungen und zunehmend reflektierte Erinnerungen des Jonas. Der Leser liest seine Verzweiflung aus den Handlungen des Helden ab, obwohl die Darstellung selbst keine direkte Beschreibung seiner Verzweiflung ist: Das Ganze ist hingegen in konsequent einfachster, nüchterner, ja nahezu emotionsloser Sprache gehalten: kurze, simpel gebaute Sätze, karger Wortschatz. Alles erscheint mir, sogar in der Darlegung, banal und ärmlich. So ist das Schreckliche und Unbegreifliche, die hoffnungslose Einsamkeit zumindest eine kurze Weile erträglich.

Es ist das zufällige Schicksal eines völlig durchschnittlichen Menschen nach seinem eher ereignislosen, scheinbar langweiligen, unreflektierten Leben. Zwar hatte er in seiner Kindheit dank seiner Tante ein gewisses Faible für Metaphysisches entwickelt, dies jedoch als Erwachsener offenbar verdrängt oder verloren. Zunächst scheint es so, er, der Träumer, habe sich in Alltagsroutinen verloren und sich lange kaum Gedanken über sich bzw. über die Welt und das Leben gemacht. Im Prinzip also ein glücklicher Mensch - könnte man meinen!

Das Geschehen lässt im weiteren Verlauf Zweifel daran aufkommen, da er zunehmend an sich und dem Sinn des Lebens zweifelt - doch schließlich bestätigt es sich.

Zunächst schildert der Roman endlose Versuche des Jonas, andere "Überlebende" zu finden oder das Rätsel des Verschwindens zu klären. Aber eigentlich weiß er nicht mal, wo er überhaupt ansetzen müsste. Immer wieder startet er telefonische Kontaktversuche zu seiner geliebten Marie und anderen, er durchstöbert mehr oder weniger gezielt Wien und dann die nähere und weitere Umgebung, dringt mit Fahrzeugen bis nach Ungarn oder Deutschland vor. Findet aber auch dort nichts. Hinterlässt Botschaften, seine Telefonnummer, Adresse auf Transparenten, Fensterscheiben, Fernsehtürmen, Supermärkten usw. Stellt beobachtende Kameras an allen möglichen Punkten auf.
Er versucht, Spuren zu hinterlassen! (Das könnte man auch als eine Metapher ansehen: Der im persönlichen, wie im Traum vorbeiziehendem Leben zuweilen übermächtig-verzweifelte Wunsch, irgendwelche Spuren zu hinterlassen ...)
Ruft, sucht. Immer wieder baut der Autor teilweise gruselige Spannung auf: "War da ein Geräusch?!", "Steht da jemand beobachtend oder gar bedrohlich hinter mir?!" Stets fällt die Erwartung, die Spannung wieder schlaff in sich zusammen. Die sich bis zur Öde wiederholenden kurzen Spannungs-Aufbauten und -Abstürze ermüden schließlich den Leser: Da ist einfach nichts! Nichts mehr zu erwarten und auch nicht zu befürchten!

Auf die ergebnislose und frustrierende Suche nach seinen und anderen Menschen, dem Spurenlegen und einer Erklärung folgt die intensive Suche nach sich selbst. Die intensive Beschäftigung mit sich selbst.
Er ist vollständig auf sich zurückgeworfen und hat nur noch sich als Gegenstand zwischenmenschlicher Aktion. Das wird hier geradezu wörtlich genommen und durchgespielt: Als Kind war Jonas ein sensibler Träumer, empfänglich für Geistergeschichten und schlafwandelte. Verständlich, dass dies in so einer seelischen Ausnahmesituation zurückkehrt.
Jonas glaubt sich beobachtet, verfolgt, schließlich sogar zunehmend bedroht. Er hat nicht unrecht: Sein anderes (inzw. veraltetes?) Ich, inzw. ebenso rätselhaft und unverständlich wie das Schicksal dieser verlassenen Welt, lebt (nur noch) in der Nacht, nachdem er sich schlafen legte. Er entwickelt ein unheimliches Doppelleben in der Nacht. Der Andere "Schläfer" tut beunruhigende Dinge, die der (zutage getretene neue?) "Tag-Jonas" nicht (mehr) aufklären und verstehen kann. (Er hat sich von jenem Ich entfernt.)
Er kann es nur zu kontrollieren versuchen, indem er sich selbst während des Schlafs kontinuierlich filmt und sich diese vielen, lange ereignislosen Videos tags darauf ansieht. Er entdeckt Ungereimtheiten, die ans Mystische grenzen. Der einzige verbliebene Andere auf dem Planeten ... ist der Andere in ihm selbst! Und den kann er nicht erfolgreich kontaktieren oder gar nur verstehen. Der andere wird ihm sogar zum Feind werden!

Auch auf andere, geradezu physische Weise nimmt er sein bisheriges Leben in Besitz und Reflexion, zieht es zu sich heran: Er besucht Orte seiner Kindheit und Jugend, stellt frühere Reisen und Urlaube bis ins Detail nach: was die Wege betrifft, die besuchten Raststätten oder Hotels, die verwendeten Fahrzeuge, mitgenommene Sachen. Es sind auch die Orte der ersten und anderer Begegnungen mit seiner großen Liebe Marie, die in seinen Erinnerungen immer mehr und farbigeren Raum einnimmt. Auch seine Eltern, besonders sein Vater. Er räumt die ehemalige Wohnung seiner Kindheit aus und verfrachtet den kompletten Hausstand seines alten Vaters wieder in die ursprüngliche elterliche Wohnung. Die Möbel stellt er wieder akkurat an ihren erinnerten Platz.

In der Folge, als letzte Konsequenz muss er sozusagen auch Marie heimholen. Sich zumindest über ihren Verbleib versichern. Dabei ist er sich ja seiner selbst nicht mehr sicher. Er fährt quer durch Europa bis zum Ärmelkanal, durchquert abenteuerlich den Tunnel teils mit Moped, teils zu Fuß und reist auf der Insel mit Autos weit nach Norden Richtung Schottland. In der kleinen Stadt mit dem ebf. nichtssagenden und auch deshalb bezeichnenden Allerwelts-Namen "Smalltown" lebt Maries Schwester, die sie zum Zeitpunkt des "Ereignisses" besuchte. Dorthin sucht er zu gelangen.

Diese Versuche entwickeln sich zu einem schwierigen Kampf mit seinem anderen Ich, dem "Schläfer", der ihn mit zunehmender Härte, ja mörderischer Gewalt daran hindern will. Soweit der "Tag-Jonas" auch kommt, während des unweigerlich doch hereinbrechenden Schlafs wird er immer wieder zurückgeworfen und findet sich tags darauf an verschiedenen, vom Ziel weit entfernten Orten wieder: in zerstörten Fahrzeugen, in trunkenem Zustand, schließlich sogar gefesselt im Kofferraum oder in einem Rollstuhl.

Nun wendet auch der Tag-Jonas energischen "Widerstand" an und versetzt sich mittels Tabletten in permanentes (selbstzerstörerisches) Wachsein. In diesem Zustand erreicht er Smalltown, findet die materiellen Hinterlassenschaften Maries, erkennt endgültig und klar seine Lage und was daraus zu folgern ist. Also all das, was der andere, eher kalt-rationale "Schläfer" in ihm verhindern wollte.

Schon eigenartig: Je mehr Jonas in eine emotionale, traumartige Welt eintritt, desto mehr wird er er selbst, erkennt sich (wieder). Der Schläfer kommt mir wie der "alte/frühere(?)", kalte, rationale, Alltags-Jonas vor. Der jetzt von Jonas verändertem Ich bekämpft wird. Der Ton der Story sagt mir, dass der Tag-Jonas der echte, wirkliche, aktuelle Jonas ist; Der Schläfer dagegen bleibt vage, ein etwas Überwundenes, ja atavistisch-urtümlich Unheimliches.
Darüber, wie sich das Ich und die Persönlichkeit im Laufe des Lebens laufend ändern, sinniert Jonas mehrfach und zunehmend.

Es ist Zeit, dem Ganzen ein würdiges Ende zu machen!

Es bestätigt sich für ihn in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens, insbesondere mit der "Heimkehr von Marie": er führte ein ruhiges, glückliches Leben. "Glück, das war ein Sommertag in der Kindheit, an dem die Erwachsenen im Fernsehen Fußballweltmeisterschaft schauten und an dem im Schwimmbad Reifen ausgegeben wurden. An dem es heiß war und es Eis und Limonade gab. Laute Schreie. Lachen." Er hatte seine Liebe gefunden, kein Grund, dem Anderem, etwas Entgangenem mit Bedauern zu begegnen. Nach der Vergewisserung, dass es seine Marie auch in Schottland nicht mehr gibt und er das, was von ihr noch zeugt heimgeholt hat, sieht er keinen Sinn mehr in seiner weiteren Existenz in dieser leeren Welt. Jetzt oder in Jahren sterben - es macht keinen Unterschied. Es gibt keinen potenziellen Partner, aber auch keinen Betrachter, Zeugen oder Beurteiler mehr. So entscheidet er sich für den Suizid vom erlöschenden Stephansdom aus. Auf den letzten Seiten vertiefen sich deutlich seine Gedanken und Erkenntnisse - auch in veränderter, verfeinerter Sprache, Stilistik und Satzbau spürbar. Die Erkenntnis ist - nach so vielen einsamen irrlichternden Tagen - tragisch, weil sie auch sein physisches Ende nahelegen. Sie ist aber auch eine großartige, befriedende Quintessenz seines Lebens. Er versteht, was Himmel und Hölle wirklich sind: Geistige Zustände vor dem Tod, die er in Worte fassen kann! Er versteht, worum es wirklich geht: um Selbsterkenntnis und -verständnis, Achtsamkeit und Liebe. Mit dem letzten Gedanken an "Liebe" wünschte er einmal zu sterben. Und so gelingt es ihm auch.
"Glück, das war auch, als kleines Kind im Kinderwagen umhergeschoben zu werden. Den Erwachsenen zuzusehen, ihren Stimmen zu lauschen, viele neue Dinge zu bestaunen, begrüßt und angelächelt zu werden von fremden Gesichtern. Dazusitzen und zugleich zu fahren, etwas Süßes in der Hand, und die kleinen Beine von der Sonne gewärmt zu bekommen. Und vielleicht einem anderen Kinderwagen zu begegnen, dem Mädchen mit Locken, und aneinander vorbeigeschoben zu werden und sich zuzuwinken und zu wissen, das ist sie, das ist sie, das ist die, die man lieben wird."

Glavinic spielt gern mit unterschiedlichen Stilen. Kaum ein Werk soll dem anderen gleichen.
Dieser eigenartige, magische Endzeitroman ist v.a. ein Roman über die "Endzeit" eines jeden einzelnen Menschen und erinnert in seiner beklemmenden Atmosphäre und teils auch im Stil an Haushofers "Die Wand". Anfangs war ich von der Lektüre genervt-gelangweilt, dann irritiert, von der Melancholie umgarnt und herabgezogen und doch fasziniert. Sodass ich dabeibleiben musste - bis zum bitter-tröstlichem Ende. Das Buch war in Österreich überaus erfolgreich und erhielt Preise. Sein Schriftsteller-Kollege und Landsmann Daniel Kehlmann äußerte sich berührt: "ein wundersam großes Buch [...] über das Selbst und die anderen, über Angst und Mut".