Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008)


Der Kurzroman beschreibt eine Alternativ-Historien-Dystopie.

Russland wurde durch das ungeklärte Ereignis der Tunguska-Explosion nahezu vollständig verseucht und unbewohnbar. Es fällt aus der Historie heraus, eine Revolution hat es dort nicht gegeben. Stattdessen verließ Lenin niemals sein Exil in der Schweiz und diese Schweiz selbst erlebte eine kommunistische Revolution. Seitdem (seit 100 Jahren) verheeren Dauerkriege die Welt. Die Schweizer Sowjet Republik (SSR) kämpft mit wechselnden Erfolg gegen den Rest Europas, v.a. aber gegen die miteinander verbündeten faschistischen Mächte Deutschland und England. Mal gehören Salzburg, Triest oder Karlsruhe zur großen Schweiz, dann wieder geht Bern an die Deutschen verloren usw. usf. Die Armeen Hindustans stehen am Schwarzen Meer kurz vor Rumänien, die "Amerexikaner" haben sich von der übrigen Welt isoliert und fechten ihren eigenen Bürgerkrieg aus.
Die Schweizer unterstützen Ostafrika in seinem Befreiungskampf vom Kolonialismus und exportieren ihre Zivilisation dorthin: modernes Bildungs- und Gesundheitswesen, Infrastruktur, Großstädte - v.a. aber auch ihre heilige kommunistische Mission. Afrika blüht auf. Der Preis: Zahllose Soldaten aus Schwarzafrika kämpfen in Europa gegen die Feinde der Schweiz. Und sterben zu Tausenden. Letztlich dienen sie den "Weißen" doch wieder nur als Krieger-Sklaven. Eine Geschichte vom Ende aller Utopien und aller Zivilisation: Der ewige Krieg.

Bern wurde gerade von den Deutschen zurückerobert. Der namenlose afrikanische Politkommissar erhält den Befehl, den polnisch-jüdischen Militär-Arzt Brazhinsky zu verhaften. Warum genau, wird mir nicht so recht deutlich. Die Suche und Verfolgung von Brazhinsky bestimmt einen Großteil der Story, unterbrochen von atmosphärischen Schilderungen des spätwinterlichen, verwüsteten Schweizer Landes und Erinnerungen an die Kindheit des Protagonisten in der afrikanischen Heimat.
Brazhinskys Person wird in der Annäherung dabei immer rätselhafter und unheimlicher. Er soll eine Art "Rauchsprache" erfunden haben: Gesprochene Wörter bleiben unhörbar, haben aber unmittelbare physische Wirkung. Also ein Mix aus Telepathie und Telekinese. Nebenbei wird betont, dass die Schriftlichkeit (= Zivilisation) allmählich verloren geht. Die neue Sprache könne als Waffe kriegsentscheidend sein, heißt es. Darüber, was dies metaphorisch meinen soll, mag man spekulieren.
Der Held wirkt zunehmend verunsichert. Er trifft u.a. auf einen vermeintlich gefährlichen, verrückten Gnom, der sich aber als wahrer Christ erweist, ihm das Leben rettet und sich selbst auf einer Landmine opfert.


Die Suche nach Brazhinsky, die düstere Atmosphäre erinnern an die Suche von Captain Willard nach Colonel Kurtz im Film "Apokalypse Now". Die dortige Reise gerät zum Höllentrip ins dunkle Privat-Reich eines am Krieg zerbrochenen Wahnsinnigen während eines völlig irrsinnigen, sinnentleerten Krieges. Willard zweifelt zunehmend an seinem Auftrag.


Ähnlich wie im Film wird hier der Kommissar im "Herz der Finsternis" fündig: in der großen Reduit, einem zur zertunnelten Festung ausgebauten Alpen-Gebirgsstock. Ständig von deutschen Riesengeschützen, Giftgasbomben und Luftschiffen angegriffen. In der Kern-Festung der kommunistischen Schweiz regiert schon längst keine idelogisch-straffe Führung mehr, sondern herrschen offenbar Anarchie und Wahnsinn.
Man erhofft einen eher illusorischen Frieden mit Hindustan und setzt auf die Wirkung eines Wunderwaffen-Bluffs gegenüber Deutschland für einen Waffenstillstand.


Der Kommissar wird den charismatischen Brazhinsky nicht verhaften. Nach Auseinandersetzung und Selbstverstümmelung von Brazhinsky gelingt ihm die Flucht aus der dem Untergang geweihten Festung. Er desertiert und wandert nach Süden, durch das afrikanisch verwaltete Italien zurück in die Heimat. Die Welt erscheint nun immer friedlicher, wärmer, lieblicher. Und so, wie der desillusionierte Offizier seinen Missbrauch, seine Sklaven-Rolle, dass ihm übergestülpte Fremde erkennt - sich davon abwendet und heimkehrt (!), so verlassen bei seiner Rückkehr auch die anderen Afrikaner die von den Schweizern erbauten Städte. Sie kehren in ihre Dörfer zurück.

Wie oben erwähnt: das Ende einer weiteren Utopie und einer Zivilisation.

Die vom Autor verwendete Sprache, die Sätze klingen hart und teilweise sperrig. Die Besonderheiten der Schweizer Orthographie, des eigentümlichen Satzbaus und die für Deutsche exotische Wortwahl tun ihr übriges, den Lesefluss immer wieder auszubremsen. Zwingen gelegentlich zum wiederholten Lesen eines Satzes. Hinzu tritt eine verwirrende Bildsprache, die an Traumbilder erinnert. Gleichzeitig öffnen sich damit auch immer wieder neue Türen zu weiteren verrätselten und verschachtelten Sub- und Parallelschichten.
Einige Kritiker loben die Stilsicherheit. Andere bemängeln zu deutlich erkennbare (nur grob verarbeitete?) Versatzstücke wohl aus Krafts Tagebüchern - die auch mir auffielen: z.B. wohl seine eigene Kilimandscharo-Reise ...

Der Roman irritiert mich mehr als er erhellte. Ein Lesegenuss war es mir nicht.
Wenn ich mit Hvoreckys "Tahiti-Utopia" vergleiche - einer anderen erst kürzlich gelesenen Alternativ-Historie - meine ich in Hvoreckys Story direkte Bezüge zum aktuellen, eher beklagenswerten Zustand Europas zu erkennen. Und den Weg, der zum aktuellen Europa führte. Zudem schrieb Hvorecky eine Art kreativer Festschrift (100. Todestag) zur Würdigung Stefaniks, als einem der Begründer der modernen Slowakei. Über den Trick der Alternativ-Geschichte erhellte er dabei wohl besser als mit anderen Mitteln das Wesen seines Helden und der unmittelbaren, richtungweisenden Nachkriegszeit nach dem 1. Weltkrieg.
Daran gemessen bereitet mir Krachts Roman Schwierigkeiten: Was wollte er sagen? Neokolonialismus unter Missbrauch neuer, modernistischer Ideologien? Warum hier den "ollen" Rückgriff auf den erledigten Kommunismus? Mutiger fände ich aktuell die Ansprache des allseitigen (medialen) Missbrauchs demokratischer Ideen für letztlich kalte, pragmatische, imperialistische Ziele. Zum Beispiel sowohl von chinesischer, russischer als auch von us-amerikanisch-europäischer Seite. Warum wurde aus der Horrorgeschichte zum Schluss eine Art Heilsgeschichte - mit diesem fragwürdigen Ausgang? Denn schlussendlich erkennen bei Kracht offenbar zumindest die missbrauchten Afrikaner ihre erbärmliche "Funktion", verlassen die Städte und kehren der (westlichen) Zivilisation den Rücken. Wohin, bleibt ungewiss.

Eine Version von "Apokalypse Now".

Tipp:
Der Titel ist ein Zitat aus einer Zeile des Liedes "Danny Boy" des englischen Dichters Frederic Weatherly. Für mich ein Abschieds- ein Totenlied auf etwas Geliebtes. Trauert der Roman gescheiterten Utopien und den vielen ihnen letztlich vergeblich geweihten Leben hinterher?