Robert J. Sawyer: Die Neanderthal-Parallaxe. (2002)
Wir leben in einem Multiversum: einer Welt mit vielen Paralleluniversen, also verschiedensten Versionen eines Kosmos, die sich irgendwann einmal von einem Original abgespalten haben und unabhängig weiterentwickeln. Dennoch gibt es gelegentlich passierbare Tunnel, die sie miteinander verbinden.
In einer Welt leben wir; in einem parallelen Universum auf einer alternativen Erde leben ... Neanderthaler. In deren Welt starben die Homo sapiens aus. Dafür überlebten Homo neanderthalensis und schufen ihre eigene Zivilisation. Bei einem ihrer Experimente mit Quantencomputern in einem Bergwerk wird der Computer überlastet, findet in seiner Suche nach Antwortmöglichkeiten auch unsere Welt und öffnet somit einen Zugang zu ihr. Dabei wird einer der Forscher, der Quanten-Physiker Ponter in unsere Welt transferiert. Er landet bei uns just in einem riesigen Tank voll schweren Wassers, der ebenfalls zu einem Forschungsprojekt gehört, das in einem ehemaligen kanadischen Bergwerk betrieben wird.
Dies gibt dem Autor Gelegenheit, unterhaltsam über die alternative Zivilisation der Neanderthaler zu berichten: Es ist eine Welt, die scheinbar weitgehend die Fehler und Missstände unserer Gesellschaften vermied: Kein Raubbau an Natur und an Bodenschätzen, Kriege scheint es nicht zu geben, sich befeindende, miteinander konkurrierende Staaten auch nicht. Die Neanderthaler rotteten keine Tierarten aus. Deshalb laufen auch noch Mammuts durch die Steppen. Überbevölkerung gibt es nicht, wie auch die Städte anders strukturiert sind: eher weitläufige Siedlungen im Walde mit einigen zentralen Knoten. Landwirtschaft wird nicht betrieben, zumindest sind Erzeugnisse aus verarbeitetem Getreide fremd. Auch Raumfahrt findet nicht statt: warum auch? Man MUSS nicht expandieren. Diese zerstörerische Wucher- und Ausbeutungs-Philosophie sei unserer Spezies eigen. Die Zeiteinteilung ist eine andere, Epochen werden nach Generationen bemessen. Basis für die Zeitmessung selbst ist der mond- und damit auch der weibliche Menstruationszyklus. Es gilt das dekadische, also das Zehnersystem. So wird auch der Tag eingeteilt und alles andere. Frauen und Männer leben die meiste Zeit voneinander getrennt und während ihrer Trennung voneinander als gleichgeschlechtliche monogame Paare in jeweils ihren Zonen. Nur in der Ovulationsphase kommen Frauen und Männer gern intim zusammen. Wobei auch hier langjährige, monogame Beziehungen bestimmend sind. Dieses Prinzip vermeidet die allermeisten Probleme und Gewalt in der Gesellschaft. Natürlich können sich Männer und Frauen auch außerhalb der weiblichen fruchtbaren Phase besuchen und zusammenarbeiten, aber eben nicht zusammenleben. Während der Menstruation selbst aber werden auch Besuche möglichst gemieden (Gefahr für die Männer seitens aggressiverer Frauen …) Wie praktisch: im Laufe der Zeit konnten die Frauen ihren Monatszyklus synchronisieren, was nun ebf. die gesamte Gesellschaft lenkbarer machte. Zudem: Globale Bevölkerungssteuerung nach der Knaus-Ogino-Methode …
Die Neanderthaler kennen keine Religion. Später im Text werden Neanderthaler und Menschen miteinander darüber diskutieren. Allerdings in intellektuell äußerst unergiebiger Weise, da dem Autor letztlich nur das (amerikanische) Christentum als Maßstab zur Verfügung steht. Da gibt es ein unseliges Gequatsche in "kapitalistisch anmutenden Denkschemata", als "Kosten-Nutzen-Abwägung". Da wird Pascals Wette zitiert "Wenn du an Gott glaubst, und er existiert nicht, hast du nur sehr wenig verloren. Aber wenn du nicht glaubst, und er existiert, dann riskierst du ewige Verdammnis. Unter diesen Umständen ist es klug, ein Gläubiger zu sein." Aha! Das scheint mir aberwitzig und auch engstirnig: Wenn ich glaube und der ganze christliche Hokuspokus inkl. Sündenangst (Angst, das Falsche zu tun und ewig bestraft zu werden), Vorurteile, Ausgrenzung, Denkschranken, Unduldsamkeit und Überheblichkeit gegenüber Andersdenkenden, Untertänigkeit gegenüber irdischen Obrigkeiten, die angeblich das Überirdische repräsentieren bzw. vertreten, aber eben vielleicht ganz irdischen Machtmissbrauch betreiben ... Also - nein: Wenn ich glaube und Gott existiert nicht, da verliert man (und andere) eben doch richtig viel!
Außerdem ist das Gerede von "ewiger Verdammnis" einseitig christentum-lastig. Glaube erscheint hier mit dem Christentum gleichgesetzt. Das ist mir chauvinistisch-überheblich: Genau DAS ist ein Beispiel für den Verlust einer ganzen Denk- und Gefühlswelt, wenn man einer (irrigen) Ideologie anhängt.
Die anschließende Diskussion über Moral und woher diese sonst kommen soll, wenn man doch nur nichtreligiös ist (meine Güte ...!) scheint mir im günstigsten Fall naiv, unfreundlich formuliert aber typisch us-evangelikal-fundamentalistisch. Und wiederum engherzig und engstirnig-beschränkt! Seitens des Neanderthalers wird tatsächlich eine Alternative erkannt: "gute" Moral und "gutes" Ethos erwächst GERADE aus dem Bewusstsein des absoluten Charakters der eigenen Endlichkeit und des Todes! Das mag für gewisse Christen eine sensationelle Neuigkeit und eine "crazy idea" sein, für bewusste Atheisten allerdings banal bzw. kalter Kaffee!
Immerhin ganz witzig die Hinweise auf Bezüge zwischen unserem wissenschaftlichem Denken und der christlichen Religion: singulärer biblischer Schöpfungsakt und Urknall-Modell für das Universum! Oder das biblische Dogma der Vertreibung aus dem (warm-orientalischen) Paradies und das "Out-of-Africa"-Modell der Ausbreitung des modernen Menschen aus Afrika heraus. Aber auch dies ist gemünzt auf die "christliche Splittergruppe" der Menschheit, ignoriert jedoch völlig die anderen, milliardenfachen religiösen und philosophischen Ansichten, die nicht monotheistisch angelegt sind, und zwar die von Hinduisten, Buddhisten, "Schamanisten", Daoisten, Konfuzianer, Shintoisten usw. usf. - für mich einfach unerträglich kultur- und religionsimperialistisch! Immerhin wird der interessante Vorwurf erhoben: "Selbst eure Wissenschaft ... ist von diesem Irrtum der Religion verseucht!".
Um Gewalt weitgehend zu verbannen, wurde ca. 100 Jahre vor Schilderung der Roman-Ereignisse eine Art Selbstüberwachungs-Pflicht für alle Neanderthaler eingeführt: Jeder führt diverse, ständig aktive Sensoren als Körperimplantate an und in sich, die pausenlos sämtliche Interaktionen mit der Umwelt und mit anderen "Bürgern" in ein privates "Alibi-Archiv" übertragen. Wo es dann gelagert bleibt. Es dient nicht nur der gelegentlichen Erinnerung seines Erzeugers und Besitzers. In seltenen Streit- oder gar Kriminalfällen kann es auch geöffnet werden, um die objektive Wahrheit herauszufinden. Darüber können allerdings auch Verurteilte überwacht werden. Diese "freiwillige" Selbstkontrolle habe die ohnehin friedlicheren Neanderthaler noch gewaltloser gemacht. Allein die Androhung von Gewalt, das Fäuste-Zeigen gilt als schändlich und wird hart geahndet: Bei tätlichen Übergriffen etwa, die wegen der enormen Kraft der Neanderthaler rasch tödlich enden können, wird der Täter nicht nur geächtet, sondern auch sterilisiert. Und auch nicht nur dieser, sondern auch dessen gesamte (männliche) Verwandtschaft. So will man die Weitergabe "schlechter" Genkomplexe verhindern bzw. züchtet sich selbst zu sanfteren Individuen. Darin mögen einige Leser positive Aspekte wahrnehmen. Es führt aber auch zu Tragödien, Schieflagen und eugenischem Missbrauch.
Eine solche Tragödie droht dem Lebenspartner des Ponter, dem Wissenschaftler Adikor, mit dem er auch beruflich zusammenarbeitete. Während Ponter eher der theoretische Part in dem beruflichen und privaten Zweiergespann ist, bespielt Adikor den ingenieur-technischen Bereich. Adikor sieht sich nach Verschwinden seines Freundes und Kollegen mit einem Mord-Vorwurf konfrontiert, den ausgerechnet die Lebenspartnerin Daklar der verstorbenen "Frau" von Ponter und Mutter dessen Kinder vorbringt. Sie verklagt ihn, was bei Schuldspruch nicht nur seine gesellschaftliche Ächtung und Berufsverbot nach sich ziehen kann, sondern auch dessen und seiner Verwandten und Kinder Sterilisation - also quasi die familiäre Auslöschung.
Neben der Schilderung alternativer Gesellschafts- und technischer Konzepte der Neanderthaler-Zivilisation nimmt also die dramatische Story über die versuchte Gegenwehr durch Adikor viel Raum ein. Natürlich ist auch zu klären, warum Daklar den Adikor so unnachgiebig verfolgt. Achtung Spoiler: Ihr früherer geliebter Lebensgefährte, mit dem sie hätte Kinder haben wollen, wurde Opfer einer Sippenhaftung infolge einer Gewalttat dessen Bruders. Auch er wurde daraufhin sterilisiert und geächtet. Dies zerstörte die Beziehung und nun nähert sich Daklar ihrer Menopause. Einzige Chance auf Kinder wäre eine Beziehung zum Mann ihrer Lebenspartnerin, dem Ponter gewesen. Zumal der nun "frei" war (seine Frau verstarb kürzlich) und schon eine gewisse Beziehung bestand. Nun ist dieser verschwunden und damit auch die letzte Chance für Nachwuchs dahin. Sie weiß jedoch von einem alten, fast vergessenen Faustschlag von Adikor auf Ponter. Ponter hat diesen in der Neanderthaler-Welt skandalösen Vorfall jedoch verziehen und verschwiegen. Daklar unterstellt Adikor Rückfälligkeit und Mord. Außerdem rächt sie über ihn den Verlust ihres unschuldigen Ex-Partners: Jener schlug nicht zu, wurde aber sterilisiert und geächtet, Adikor jedoch schlug zu und mordet vielleicht, kommt aber davon.
Auch unsere Seite der Welt wird beschrieben. Schauplatz ist das akademische Millieu im heutigen Kanada. Neben dem Erscheinen des Ponter im Bergwerk ist eine Vergewaltigung einer Genetikerin Mary in Toronto dramatischer Einstieg - als krasser Kontrapunkt zur friedlicheren Neanderthaler-Welt. (Halbherzig) geschildert wird der Umgang von Mary mit dieser persönlichen Katastrophe. Sie wird im weiteren eine Rolle spielen, da sie als Genetikerin und Anthropologin nachweisen kann, dass es sich bei Ponter wirklich um einen echten Neanderthaler handelt. Sie gehört zur unmittelbaren Kontaktgruppe bzw. auch zur freundschaftlichen Umgebung des Ponter.
So dient das Verbrechen und dessen mentale Verarbeitungsversuche durch Mary dem Autor als weiteres Vehikel, über das unglückliche Verhältnis zwischen Mann und Frau in unserer Homo-sapiens-Welt (oberflächlich) zu philosophieren, was dann zu einem der Ursachen für viele Übel unserer Welt aufgebaut wird.
So richtig gesellschaftstheoretisch und psychologisch überzeugend war das für mich nicht! Obwohl Kritiker gerade dem Autor Sawyer zubilligen, psychologisch tiefer in seine Helden einzutauchen, was für die Science Fiction eher untypisch sei. Mary gelingt die Überwindung ihres Traumas unglaubwürdig rasch, nur innerhalb weniger Tage. Schon nach kürzester Zeit entwickelt sich eine zarte Beziehung zwischen Ponter und Mary, die aber noch vor Erfüllung abgebrochen wird: Es gelingt Adikor, den Ponter wieder in die Heimat zurückzuholen. So kann sich Adikor rehabilitieren, beide Welten wissen nun sicher voneinander und künftige Kontakte und Besuche scheinen möglich.
Der Roman ist Auftakt zu einem Zyklus; es gibt einige Fortsetzungen.
Für mich erwies sich die Lektüre als ermüdend. Die Psychologien der Akteure haben mich nicht überzeugt, ich empfand sie als konstruiert und oberflächlich. Die Charaktere haben mich zudem nicht wirklich berührt. Ständig wiederholt sabbernd-gefaselte Klischees über schwarzhaarige, langbeinige, leicht frivole "fronsösisssche" Kanadierinnen (Beispiel wissenschaftliche Mitarbeiterin Louise) nervten mich unglaublich - als feuchte Altherrenfantasien. Diverse Gedankenspielereien über eine auf anderen Prinzipien und Ideen aufbauende Gesellschaft waren unterhaltsam. Aber sie ergeben nichts Ganzes, sind nur Bruchstücke, durch die immer wieder die ziemlich simple, spießig-puritanische Weltsicht eines sehr durchschnittlichen Nordamerikaners scheint. Das kann schnell langweilen. Es ist ja wirklich schwierig, eine fremde Gesellschaft mit dem Vokabular und den Vorstellungen unserer Welt beschreiben zu wollen. Wie soll man - metaphorisch gesprochen - die 7. Dimension mit unseren 3 oder 4 beschreiben, bebildern? Sawyers scheitert hier völlig!
Abstrus fand ich es, die Gebrechen unserer Zivilisation auf das verkorkste Verhältnis zwischen Homo-sapiens-Mann und -Frau und dessen andere gewalttätigen Unarten zurückzuführen. Ein Teil davon kennzeichnet vielleicht tatsächlich viele Gesellschaften der letzten 3.000 Jahre. Aber Alternativen gab es davor und auch danach überall auf unserer Erde bei unseren Menschen. Nicht alle Völker setzten und setzen auf Ackerbau, Sonnenanbetung, Ressourcen-Raubbau, technische Zivilisation oder auf das Patriarchat usw.
Und die Geschichten mit dem letztlich total-überwachenden und missbräuchlich verwendbaren mentalen Alibi-Archiven (Computer-Backup des eigenen Gedächtnisses) plus geradezu faschistoide Eugenik (Sippenkastrationen bei Verfehlungen zur Reinigung des Gen-Pools) sind einfach nur gruselig. Der Autor entwertet die hehren Ziele auch gleich wieder mit Beschreibungen ihres Missbrauchs, Entartung und auch deren Praxistauglichkeit: Dem Adikor gelingt es sehr, sehr simpel, die vermeintlich so perfekte und gesellschaftlich so gutmeinende, perfekte Kontrolle auszuhebeln: Einfältig!
Für mich eher Zeitverschwendung.
Immerhin vermittelt die Lektüre anderen Lesern vielleicht eine Ahnung davon, dass sich alles, aber auch ALLES auch ganz anders hätte entwickeln können. Die Welt kann völlig anders aussehen, wenn einige gesellschaftliche Parameter geändert würden. Die hier angebotenen konkreten Details mag man belächeln. Aber dann justiere man sie eben anders oder ersetze sie durch andere Zahnrädchen und Hebel!