Iris Wolff: Lichtungen. (2024)

Iris Wolff wurde auf der Shortlist der Anwärter für den Deutschen Buchpreis 2024 geführt. Prämiert wurde im Oktober letztlich ein anderes Werk. Aber „Lichtungen“ stand bei mir als Favorit ganz oben.

 

Kurz:

Es ist ein Roman über die langjährige Entwicklung einer Freundschaft zwischen den zwei recht ungleichen Menschen Lev und Kato. Von ihrer Kindheit im bleiernen sozialistischen Vielvölkerstaat Rumänien bis in die Jetztzeit.

Wie sich beide – noch skeptisch zueinander – kennenlernten, sich daraus später eine Liebesbeziehung entwickelte und sie sich wieder verließen und wiederfanden. Das Mädchen Kato ist ständig im Auf- und Ausbruch. Und der Junge Lev kann lange seine Prägungen und Verstrickungen nicht loslassen, fühlt sich anderen nicht genügend. Eine melancholische, aber auch sanft und geduldig zuversichtliche Geschichte von Abschieden, vom Verlassen und Verlassenwerden, von Identität, Zugehörigkeit, Heimatsuche, Wartenmüssen und Wartenkönnen, Aufbruch, Ankommen. Muss man überhaupt irgendwo „ankommen“? Es ist auch ein Blick auf die jüngste Geschichte Rumäniens. Lyrische Sprache! Besonderheit: Die Story wird sozusagen chronologisch rückwärts erzählt und beginnt mit Kapitel 9 am Anfang des 21. Jahrhunderts in Frankreich. Um mit dem 1. Kapitel in der frühen Kindheit von Lev im Rumänien der Siebziger zu enden. Dieses „Ende“ allerdings initialisiert, begründet, erklärt zugleich Lev’s Persönlichkeit und sein anfängliches Trauma: den frühen Verlust einer geliebten und mit grenzenlosem Vertrauen gesehenen Person – seines Vaters. Der Ohnmacht gegenüber dem Schicksal, gegenüber dem „rettungslosen Fallen“, das die stete Suche nach einfachem, dauerhaftem Halt und Furcht vor Wagnissen verursachte. Mit hoffnungsvollem Ausgang. Eingangs des Romans …

 

Lang:

Die meisten Inhaltsangaben von Rezensenten und Kritikern erzählen über den melancholischen Roman in chronologischer Folge der Story: von der Kindheit der beiden Protagonisten bis in deren Erwachsenenalter, bis in die frühen Nuller Jahre des neuen Jahrtausends. Aber so liest sich das Buch gerade nicht. Stattdessen beginnt der Roman mit Kapitel 9 in der „Gegenwart“ des Romans und schreitet dann linear voran ins Kapitel 1, bis in die Kindheit des Haupthelden Lev. Das mag zunächst irritieren. Man könnte auch das Buch von hinten nach vorn lesen, es machte durchaus Sinn, wäre vielleicht einfacher. Auch mir war die Verlockung groß. Doch ich erhielt meine Selbstdisziplin und las es so, wie es die Autorin – selbstverständlich nicht ohne Grund – gebaut und gewollt hat. Es schien mir auch nicht ungewöhnlich: Man begegnet einem Menschen im Jetzt-Zustand. Und wenn man sich mit ihm anfreundet und kennenlernt, deckt dieser nach und nach seine Facetten, Schichten seiner Geschichte, seines Werdens auf. Immer weiter dringt man vor in die Vergangenheit und immer besser erklärt sich dadurch die jetzige Gestalt. So sah ich es auch hier und es hatte seine Logik: Eine Reise in die Vergangenheit, die das Jetzt erhellt: Was hat diesen Menschen zu dem gemacht, der er heute ist?

Und auch: „Man lebt vorwärts und versteht rückwärts“. (Stuttgarter Zeitung nach Kierkegaard)

Der umgekehrte Kapitelverlauf erschwerte mir also keineswegs das Verständnis.

 

Der Roman mit Kapitel 9 setzt ein, als Lev und Kato durch Frankreich reisen - vermutlich nach dem Jahr 2000, aber keinesfalls in unserer Gegenwart um das Jahr 2024 herum. Diese Annahme ergibt sich aus Angaben zu deren Kindheit, ihrer Halbwüchsigkeit zur Mitte der achtziger Jahre. Beschrieben wird, wie Lev eine Freundin, die Malerin, Street-art-Künstlerin Kato begleitet. Er beobachtet sie und schließlich reist er mit ihr. Er beginnt sich zu erinnern, wie er hierherkam, sie wiedergewann und immer weiter zurück in die Vergangenheit schaut – zu sehen, wie alles begann.

Dabei ist der weitere Ausblick in die Zukunft, der ja bereits auf den ersten Seiten erfolgt, unklar: Was wird aus den beiden? Sind sie wirklich ein Paar? Bleiben sie zusammen, v.a. bleibt er bei ihr, oder kehrt er heim, zurück nach Rumänien, ihrer beider Heimat? Man weiß es nicht. Wenn jedoch schließlich der Roman mit Kapitel 1 endet, in der frühen Kindheit des kleinen Lev, in den Siebzigern, hat der berührte Leser vieles erfahren, eine Verbindung mit den liebevoll gezeichneten Menschen aufgebaut. Er hat nun umso mehr das dringende Verlangen, dem „Paar“ Glück und Zusammensein zu wünschen! Weil sie zusammengehören und eine lange Geschichte hinter sich haben! Das ist die Wirkung eines derart geschickt aufgebauten Romans.

Dabei erzählt das Buch nicht kontinuierlich, gleichmäßig. Es greift sich relevante Schlaglichter heraus. Es sucht nach „Lichtungen“, wichtigen Episoden des Lebensflusses, der dahinfließt, an dessen alltägliche Details man sich nicht zu erinnern vermag. Der sich aber immer wieder zu Punkten und Knoten verdichtet, zu Erinnerungsinseln gerinnt. Der die markanten Weichenstellungen und Kreuzpunkte findet, wo sich Entscheidungen vollzogen, Wege änderten. Auf diese Weise besticht die Handlungsführung auch durch die Kunst des Auslassens!

 

Die Sprache ist einerseits lakonisch, und dann doch zärtlich und voller Lyrik. Manche Kritiker empfanden sie teilweise als kitschig. Das sehe ich nicht so. Es ist eine klare, nüchterne Sprache, in dem immer wieder gut dosierte Poetik platziert wurde.

 

Die allgemeine Story von Kapitel 1 bis 9.

Das sozialistische Rumänien der siebziger Jahre. Ein Vielvölkerstaat. Auch Lev’s Ethnie ist uneindeutig: teils siebenbürgisch deutsch, teils österreichisch, teils rumänisch. Auch seine Heimat-Landschaft, der Norden Rumäniens, wechselte permanent die Herrschaft … Er ist Sohn eines Waldarbeiters und – nachdem dieser Witwer wurde – von dessen zweiter Frau Lis. Aus der Stadt Schäßburg kam sie wegen ihm ins 200 Kilometer entfernte Dorf in der Maramures, wo sie nun auch Mutter der anderen 3 Kinder aus des Mannes erster Ehe wurde. Sie fremdelte stets mit der Umgebung. Aber sie blieb, weil diese Gegend mit dem geliebten Mann verbunden ist! Wie prägend der Vater für die Geschichte von Lev war, zeigt sich in den hinteren letzten Kapiteln. Und das, obwohl der Vater bei einem Waldarbeit-Unfall bereits in seinem 6. Lebensjahr ums Leben kam!

 

Levs Kindheit wird bebildert und sein sehr frühzeitiges Sehen und Bemerken des „seltsamen“ Mädchens Kato beschrieben. Ein sonderbares, ungewöhnliches Mädchen, welches Außenseiterin ist, von den anderen Kindern gemieden. Wegen ihrer Klugheit und Nachdenklichkeit wirkt sie distanziert, manchem vielleicht unangenehm überlegen, ja hochnäsig. Sie ist Halbwaise, kümmert sich um den Imker-Vater, ist nicht wie andere Mädels als Püppchen herausgeputzt. Sie scheint verträumt (wie Lev) und interessiert sich v.a. für das Malen. Dennoch ist Kato bodenständig, tatkräftig und vor allem sehr klug und gehört zu den Klassenbesten. Trotzdem muss sie auf ihres Vaters Geheiß die Schule mit dem Minimal-Abschluss der 8. Klasse abschließen, um den Vater im Haushalt zu unterstützen.

Lev ist verträumt, aber auch wirklich deutlich träge. Dank Katos Hilfe schafft er es jedoch in der Schule.

Als Elfjähriger verliert er bei einem Autounfall seines Großvaters mit ihm die Kontrolle über seine Beine. Wie gelähmt ist er lange Zeit an das Bett gefesselt. Auch diese Zeit wird ihn prägen: das Gefühl vergessen und aufgegeben zu werden, ja anderen zur Last zu fallen. Was diese veranlassen könnte, sich seiner zu entledigen. (Da ist sein bedrohlicher Bruder Valea, mit dem er überhaupt kein gutes Verhältnis hat). Und das Gefühl, immer weiter und schneller, rettungslos zu fallen, wenn man sich schon einmal im Absturz befindet. Ohne aufgefangen zu werden. „Einer der fällt, wird immer weiter fallen.“

Er ist ans Bett gefesselt. Die Schule schickt ihm diese Kato, die ihm die Hausaufgaben bringt, ihm den Schulstoff erklärt und hilft. Anfangs ist der Junge gar nicht begeistert. Aber sie schafft es, Lev aus seiner Versteinerung zu lösen. Sie erhält sein Vertrauen, seine Zuneigung und schließlich sogar Hilfe und Schutz, z.B. als er sie vor dem Übergriff seinen Bruders bewahrt. So holt sie ihn buchstäblich wieder auf die Beine. Ihn aber auch letztlich aus seiner allgemeinen Lethargie, sein Verhaftetsein zu führen, das bedarf weiterer 20 Jahre!

So entwickelt sich eine Kinderfreundschaft zweier sehr unterschiedlicher Menschen. Das wird auch an deren Vorlieben deutlich: Kato malt, Lev „inventarisiert Geräusche“. Kato gewinnt allmählich immer weiter an Statur und Stärke. Lev hingegen wird nach seiner Krankheit gemieden und gemobbt. Auch er wird die Schule abbrechen wollen, um Waldarbeiter zu werden. Dort fühlt er sich zuhause. Faszinierend: „Kernholz … Dieser dunkle, innere Teil eines Stammes ist tot, aber das tote Holz trägt das lebendige. Bäume … sterben wachsend.“

Lev und Kato werden mehr oder weniger kurzzeitig ein Paar, spätestens während seines Militärdienstes. Er verweigert sich übrigens auch dort dem blinden Gehorsam bzw. der Lüge, übt eher sanften Widerstand, als er den Eid auf Ceausescu und das sozialistische Rumänien ablehnt (aber auf einen Besen schwört …) und deshalb daraufhin in einem Bergwerk landet.

 

Der ganze Roman ist vom Weggehen, Verlassen der Heimat, Aufbruch geprägt. Bleiben und/oder Gehen. Das Leben in einer preisgegebenen Welt „an der Schwelle“. Die Rumänien-Deutschen, die permanent über ihre Ausreise nachdenken. Lev hilft seinem ebenso prägenden Großvater und Uhrmachermeister Ferry zur Flucht über die Grenze. Die weise, fast hellseherische Großmutter Bunica, die solche Erkenntnisse sagen wird wie: „Das Wissen kommt aus dem Leib, aus dem ganzen Leib, … die meisten Leute kommen jedoch bedauerlicherweise nie über ihren Kopf hinaus.“

Und auch Kato – schon nach Fall des Eisernen Vorhangs – schließt sich schließlich einem deutschen Bikepacker an, dem in vielerlei Hinsicht unkonventionellen Tom und entflieht so der Enge ihres Dorfes Richtung Westen. Dort tingelt sie durch die Fußgängerzonen, wohnt in einem Auto und malt. Zurück bleibt Lev. Verwaist, heimatlos, entwurzelt streift er zunächst durch das Land, findet eine Weile Halt bei einer 10 oder 15 Jahre älteren Frau Marinela. Kato schickt ihm Ansichtskarten aus den europäischen Städten, wo sie gerade weilt. Bis – nach 5 Jahren – ihn eine Karte aus dem Schweizer Zürich erreicht mit nur einem Satz: „Wann kommst du?“ Zunächst weiß er nicht so recht, wie es gemeint ist, aber er reist zu ihr. Ob er bleiben wird?

 

Schriftstellerin Iris Wolff selbst wurde in Siebenbürgen, Rumänien geboren. Sie ist also „Siebenbürgen-Sächsin“. So gibt ihr Roman durchaus auch einen Einblick in die jüngste Geschichte Rumäniens aus erster Hand. Ihr Werk atmet die bleierne Welt der Menschen im sozialistischen Rumänien; erzählt von Menschen, die nicht aktiv werden können. Die in Passivität, in einem ständigen Warten, im eher passivem Widerstand leben. Was die Deutschen betrifft: vor allem im Warten auf Ausreise. Der Roman erzählt vom Miteinander der verschiedenen Ethnien und letztlich immer wieder vom Abschiednehmen, Verlassen und Verlassenwerden und auch vom Ankommen.

 

Und dazwischen so viel scheinbar Nebensächliches aber Anrührendes: wie das Leben und Sterben eines Katers Khalil (arabisch „guter Freund“), der Gesang der unscheinbaren Amsel, ein Sanatoriumsaufenthalt in den Siebzigern, das Tschernobyl-Unglück in den Achtzigern, die Geschichte um die befreundeten Wirtsleute Milena und Camil.

 

Berührt hat die Geschichte der langen, letztlich unverbrüchlichen Freundschaft und Treue, Loyalität. Obwohl einiges zwischen Kato und Lev Jahre braucht, um ausgesprochen oder – buchstäblich – berührt zu werden. Sie können aufeinander warten! Darin sind sie zwar durch ihre Sozialisation im repressiven Rumänien trainiert. Aber wirklich ergreifend ist es mitzuerleben, wie Lev sich dank Kato allmählich selbst befreit, seine innere „Diktatur abschüttelt: die des eigenen Gefühls, einem anderen Menschen nicht genug sein zu können“ (FAZ-Kritik). Wo ist man zugehörig? Was prägt einen? Und: Hindert, lähmt dies nicht mitunter die eigene Persönlichkeit, das eigene Wollen? Überhaupt: der Großvater meint einmal: „Zugehörigkeit …. Ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.“

 

Der Roman endet mit einem wichtigen Satz von Lev‘s liebenden Vater, als der Sohn dessen Hand hält, ja klammert. Der letzte Satz ist aber auch gleichzeitig der Beginn, die Initiation seiner Lebensreise: „Lev? … Schlaf wieder ein … Bald bin ich zurück … Du kannst jetzt loslassen.“

Vater kam schon bald eben nicht zurück! Loslassen muss Lev dennoch!