Viktor Pelewin: Der Prinz von MinPlan. (1991)

Eine Story aus dem Frühwerk Pelewins. Nichts weltbewegendes. Aber ein interessantes Stück auf seinem Weg, das doch schon den späteren, reiferen Schriftsteller erkennen lässt. Stilistisch vielleicht hier und dort etwas sperrig. Das mag an den ungewöhnlichen Übersetzern liegen: ein studentisches Team der Universität Innsbruck. Allerdings ist der eigenwillige Duktus auch im Original zu beobachten. Wohl schon Ende der achtziger Jahre begonnen, kam die Erzählung 1991 heraus. Zumindest vor dem Ende der Staatlichen Komitees für Planung (GosPlan, hier eben "MinPlan") und des für Verteilung (GosSnab, hier "MinSorg"). Das waren für die sozialistische Wirtschaft wichtige Quasi-Unterministerien: Fehlender kapitalistischer Wettbewerb und "Selbstregulierung" erforderten zentrale Planung und Allokation der Ressourcen. Diese Komitees bzw. Ministerien spielen in der Erzählung eine große Rolle. Ihre Überlebtheit ist bereits mehr als deutlich. 1991 wurden sie denn auch aufgelöst.

 

Beschrieben wird die Geschichte von Sascha, der im GosSnab - nun ja, "arbeitet". Er steht wohl in der Tradition "unnützer Menschen in der russischen Literatur", die sich in ihrer bleiernen gesellschaftlichen Umgebung fehl am Platze fühlen. Sich nicht verwirklichen können. Mit sich nichts anzufangen wissen. Die Schuld für das ganze Elend womöglich bei sich suchen. So sieht sich auch Sascha : "Ich bin doch ein schlechter Ingenieur, ein sehr schlechter. Mich interessiert das alles einfach nicht. Und ein schlechter Blutsauger bin ich zudem ..." Tatsächlich hat offenbar niemand mehr wirklich etwas Sinnvolles zu tun. Alle spielen an den (offenbar von den Amerikanern gelieferten und zuverlässig ruhig stellenden - um nicht zu sagen sedierenden, betäubenden) Computern: Ältere "Pioniere der PC-Games" werden sicher freudvoll an damals virulente Spiele erinnert wie "Prinz von Persien", "Arkanoid", "Budokan", "Abrams Battle Tanks", "F15 Strike Eagle" usw. Dummes, ablenkendes Entertainment und Spielzeug ...

Es stört übrigens überhaupt nicht, dass die Technik inzwischen deutlich über den damals Ehrfurcht gebietenden 386er Prozessor und eine 200-Megabyte-Festplatte hinausgeeilt ist ...

 

Grimmig schildert Pelewin, wie die selbstgefälligen, mit sinnfreien Spielen beschäftigten Apparatschiks von gestern nun verächtlich auf die Kommunisten herabblicken, deren Taten verurteilen und dümmlich vermeintlich westlicher Lebensart frönen/imitieren (indem sie trendy Games spielen und Boulevard-Unsinn konsumieren) - ohne also wirklich etwas begriffen zu haben. Zur Charakterisierung dieser tumben Opportunisten bedarf es nur weniger Sätze: Da nehmen sie ausgerechnet Berichte über angeblich von Aliens geschwängerte Amerikanerinnen ernst und ballern in Videospielen gedankenlos mit Ami-Panzern und -Flugzeugen sowjetische MIGs oder palästinensische "Terroristen" nieder. Man wundert sich über solch rasanten Verlust sowjetischen Patriotismus oder auch russischer Selbstachtung und Ehre ...

Sascha hilft anderen Mitarbeitern aber auch denen im benachbarten "Ministerium", dem GosPlan, und auch denen, die im echten Leben bereits höhere "Level" erreichten: Tipps und Tricks bei der Installation von Spielen bzw. ihrem erfolgreichen Abarbeiten. Denn die Spiele erweisen sich als eigentliche Alltagsbeschäftigung der Mitarbeiter. Da die Spiele noch nicht wirklich komplex zu nennen sind (buchstäblich zweidimensional und einfältig), erscheint das Tun der spätsowjetischen Verwaltung damit umso sinnloser ... Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen, "Es beunruhigte ihn zunehmend der Gedanke, daß er bald sterben und auf Erden keine Spur hinterlassen werde."

 

Im Grunde entspricht die Handlung einem Spielverlauf von "Prince of Persia" von Level 1 bis 12. Wobei mitunter Level übersprungen werden, wenn ein Hack gefunden wird. Möglich ist auch ein gelegentlicher Rücksturz, wenn der jew. Protagonist von "bumerang-ähnlichen Gegenständen" getroffen wird. Ja, ja - Pelewin ist eben witzig, man versteht seine Bildchen. Die Kapitelüberschriften tragen auch die entspr. Bezeichnungen von "Levels". Kenner erwähnen übrigens, dass man anhand der genauen Anleitungen und Beschreibungen Pelewins das Spiel "Prinz von Persien" durchspielen könne.

Allerdings wird dem Leser bereits im ersten Kapitel klar, dass sich das Spiel des Sascha unentwegt mit den Spielewelten seiner Kolleginnen und Kollegen und auch mit der realen Welt vermengt. Eine Trennung ist sehr bald kaum noch möglich. Was ist Wirklichkeit, was nicht? Gibt es diese Wirklichkeit irgendwo? Spielt das überhaupt eine Rolle? Im welchen und wessen Spiel befindet man sich gerade? Ist es nicht eher so: Es "existieren sowohl das Labyrinth als auch die Figur nur für den, der auf den Bildschirm des Monitors schaut." (Man fühlt sich einmal mehr an Platons Höhlengleichnis erinnert.) Und: "Wenn die Figur schon lange im MinSorg arbeitet, beschließt sie aus irgendeinem Grund, daß sie es ist, die auf den Monitor schaut, obwohl sie eigentlich nur am Bildschirm herumläuft." - Na ja, es soll auch Leute in Deutschland geben, die ihre zufällig hineingeborene Position tatsächlich für ihren Verdienst halten und sich allein deshalb anderen überlegen dünken ...

 

Was ist also der Sinn des Lebens? Warum sich immer wieder aufs Neue durch die eigentlich sich immer gleichenden Level vorwärtskämpfen und -quälen? Um angeblich im letzten Level "die Prinzessin" zu sehen. Die sich dann - angekommen - als vermoderte Puppe in einer üblen Rumpelkummer offenbart. Kein wirkliches Ziel! Und danach? Beginnt alles wieder von vorn, erneut vom Level 1 an: Das Wesen im Labyrinth des Spiels empfindet zu Recht deja-vu-Erlebnisse.

Oder manchmal verstellen auch die Anstrengungen des Weges einen kühlen, realistischen Blick auf das Ziel: "Es gibt in Wirklichkeit keine 'Wirklichkeit'. Sagen wir so, er [der Mensch] kann es sich nicht leisten, sie zu sehen." - "Aber warum habe ich sie dann gesehen?" - "Nun, du bist einfach über die Diensttreppe gegangen." (Ja, das ist langsam und mühevoll, offenbart ihrem Nutzer, ihrem "Geher" aber eher die Realität, als einem buchstäblichen Luftikus, der einfach jenseits des normalen Aufstiegs per "Zauber", "Hacking" oder "Mufti-Order" viele hundert Meter - quasi durch die Luft gehoben - überspringen darf. Und dadurch natürlich den Bergweg überhaupt nicht kennt und einschätzen kann.

Selbst wenn sich der Zielort erhaben zeigen würde, bleibt da die Frage nach der Identität - "was weiter? Worauf hoffe ich noch? ... wenn ich da hochklettere, wo finde ich dann jenes 'Ich', das dort hinaufklettern wollte?"

Hinzu kommt, dass sich das ein oder andere höhere Level nur über ein dumme Bodenluke erreichen lässt! Überraschung! Und da unten steht dann irgendwo ein Schild "MinPlan der UdSSR". (Es könnte auch ein komfortables bundesdeutsches Pöstchen sein ...) Von wegen immer schön ordentlich und gesittet oben lang ... "und ich Dummkopf bin die ganze Zeit mit dem O-Bus gefahren" ... Nun ja.

 

Erlösung daraus wäre eigentlich das Nichts ...

 

Oder wie es Schriftstellerin Ana Marwan kürzlich bei Denis Scheck im TV auf den Punkt brachte: "Der Sinn des Lebens besteht doch darin, das Erreichen des Ziels möglichst weit hinauszuschieben ..."

 

Kleine Lebenserfahrungen werden metaphorisch ausgebreitet: Man fühlt sich beim Durchlaufen der Level "gezwungen", zahllose andere kleine, unschuldige aber ebenso erbittert kämpfende Leute geradezu "niederzumetzeln", um nur ein erbärmliches Level weiterzukommen, "aufzusteigen". Andererseits muss man gelegentlich an kleinen sadistischen Giftzwergen vorbei, höllischen Königen ihres jeweiligen Levels. Zur Rechenschaft ziehen lassen sich diese Menschenpeiniger kaum: Zu ohnmächtig ist man ihnen per "randomisierten Algorithmus" sozusagen ausgeliefert. Ihrer gerechten Strafe zuführen kann man sie manchmal paradoxerweise erst weiter oben: Solche tumb-aggressiven Mini-Herrscher sind also quasi Richtung Straf-Vollstreckung zu befördern! Was Sascha im Falle eines kleinen, unfähigen Apparatschiks in der Moskauer Wohnungsverwaltung auch tut: Er lässt ihn künstlich einige Level überspringen, da der Tyrann aus eigener Kraft nie die nächste Stufe erreichen würde. Dort erwarten ihn bereits seine Rächer.

 

Sinn des Lebens, Wirklichkeit, Scheinwelten (auch in der Werbung), Verwobensein mit Virtuellem (oder drogen-halluzinogenen) Räumen - ein Grundthema, dass dem Buddhismus huldigenden Pelewin seit jeher am Herzen liegt. Wenn man ihm böse will: "redundant im Sujet". So haben eben nicht wenige Schriftsteller, Dramaturgen oder Komponisten ein Lebensthema.

"Statt dem einzigen, alles verursachenden Prinzip, dem Schöpfer des "Bauplans", steht ... der Weg der Suche im Mittelpunkt - ein Herangehen, das auch verschiedene Möglichkeiten von Identität zulässt", so im Nachwort der Herausgeber. Der kleine Stalin mit seinen Machtfantasien wandelt sich zum kleinen Buddha ... Das könnte schon alles gewesen sein, aber ...

Von wegen: "Mein Gott" dachte er [Sascha] plötzlich, "und ich lebe doch tatsächlich in diesem ... in dieser ... da stehe ich besoffen in der Schlange um Portwein an, mitten unter all diesen Schweinefratzen - und glaube, ich wäre ein Prinz?!" ... Und dann sind auch noch die Sardellen alle! Es ist halt Scheiß-1991!

(Wir haben jetzt Anfang 2023, die Russländer haben sich zu einem Krieg gegen die von der NATO aufgepumpte und gestützte Ukraine verlocken lassen. Vielleicht erleben sie demnächst also erneut ein ähnliches deja-vu wie Anfang der schlimmen Neunziger? Verblüffenderweise äußert sich in damaliger Situation in der Erzählung ein betrunkener Typ: "Meiner Meinung nach ... sollten wir in unsere angestammten Gebiete zurückkehren - Vladimir, Jaroslavl - an die Leute Waffen verteilen und ganz Rußland von neuem erobern." Ich reibe mir ob der Prophetie die Augen! Alles kehrt wieder ...?! Es geht nicht anders: Aktuell lese ich auch andere Dinge heraus. Frostig wird einem da ums Herz, wenn es zum Schluss heißt:

 

"Wie ein Tautropfen,

Der auf dem Halm

Eine Sekunde lang glänzt,

Um dann als Dunst

Zu den Wolken zu entschwinden -

Müssen wohl auch wir

Die ganze Ewigkeit

In der Finsternis verbringen?

Oh Hoffnungslosigkeit!"

 

"Have a nice DOS!

B:\>"