Don DeLillo: Null K. (2016)
Die Hauptfigur und der Erzähler, der 34-jährige Jeffrey Lockhart hat seinen Platz im Leben noch nicht gefunden. Er ist hoch intelligent, selbstreflektiert und kritischen Geistes, irrt ziel- aber auch lustlos von Job zu Job. Auch eine Familie und Kinder hat er nicht - allerdings eine Geliebte: Emma Breslau. Sie ist Lehrerin an einer Schule für geistig "Eingeschränkte" / "Besondere" - welche besonders schwer zu beschulen sind. Ziel: sie überhaupt dazu zu bringen, ein gewisses Maß an Bewusstheit zu entwickeln. Zusammen mit ihrem Ex-Ehemann adoptierte Emma einen - verhaltensauffälligen - Jungen "Stak" aus einem ukrainischem Waisenheim. Einerseits offenbar - inselartig - hochbegabt, aber auch mit seltsamen Charaktereigenschaften. Bei denen unklar bleibt, ob sie aus Krankheiten oder Traumata resultieren. Er wird später eine wichtige Rolle spielen.
Jeff hat Probleme mit seinem "übergroßen" Vater Ross Lockhart, der einst seine geliebte Mutter verließ und als Tycoon und Investmentbanker im Hochrisiko-Handel erfolgreich tätig war. Inzwischen ist er Milliardär. Am Tag des Todes von Jeffreys Mutter Madeline war der Vater auf der Titelseite eines Newspaper-Journals als Finanzgenie abgebildet. Daran kann sich Jeffrey genau erinnern! Und diese bezeichnende assoziative Verbindung ("wo war er am Todestag von Madeline? Auf dem Cover von "Newsweek" und im TV!) hat sich unauslöschlich im Geist festgesetzt. Alles an dem Vater scheint ihm zuwider: dessen rücksichtsloses, strikt zielgerichtetes Handeln, sein forderndes Auftreten, die stringente Logik, das Genau-Wissen, wo es langgeht und wie man arbeiten und leben sollte! Und doch wirft der "Typ" ja Leute weg, bewegt sich in der fragwürdigen Irrwelt des Casino-Finanzjongleur-Kapitalismus usw. Der charakterlich so tatkräftige, rational erscheinende Macher ... in einer Arbeits- und Lebensumgebung, die doch Illusion ist, ein Irrweg, eine letztlich doch auf Treibsand gebaute (schädliche) Scheinwelt ohne echte Wärme. Trotz allem äußerlich beeindruckenden Habitus und seiner Attribute (Reichtum, Ansehen, robustes, selbstsicheres Auftreten) sieht Jeffrey das Falsche, den Betrug des Vaters an sich und an andere.
Selbst der Name ist nicht echt! Denn eigentlich hieß der Vater Nicholas Satterswaite. Doch mit einem solchen Namen, der eher Weichheit und Diffuses assoziiert, meinte der Mann keine Karriere machen zu können. Also wählte er den zackigeren "Ross Lockhart"! (So sieht also ein Praktiker die Sache mit dem Primat von Sein und Bewusstsein …! Und wie schon allein dies Frage nach Identität aufwirft.) Selbstoptimierung fängt beim Namen an. Identität ist unwichtig.
Den neuen Namen vererbt er seinem Sohn.
Alles scheint falsch. Dennoch bleibt Jeff mit Ross im Kontakt: Es ist v.a. wohl wegen dessen zweitet, viel jüngeren Ehefrau Artis Martineau - eine nachdenkliche Anthropologin und Archäologin. Er bewundert die faszinierende, ja charismatische Frau. Deshalb ist es eben vielleicht sie, die damit wohl die Verbindung zwischen beiden aufrecht erhält. Sie liebt Ross ganz klar aufrichtig, was von diesem wirklich erwidert wird. Gerade dies lässt Jeffrey an der scheinbar "leeren Hülle" des Vaters verunsichern. Ist da doch mehr?
Dies alles erfährt der Leser im Lauf der Handlung aus vielen detaillierten Rückblenden.
Zum Roman-Anfang fordert Ross seinen Sohn auf, dem Lebensende seiner Lebensgefährtin Artis beizuwohnen. Sie ist tödlich an MS (oder Krebs) erkrankt und hat beschlossen, ihr unausweichliches Ende nicht abzuwarten. Sie verspricht sich ein - wie auch immer geartetes - "Überleben" mit einer Art Kryo-Konservierung (also bei nahe Null Kelvin ...) in letzter Sekunde: Die Rettung käme dann erst nach Wiederbelebung in der Zukunft. Oder sie würde in gänzlich anderer Form fortleben.
Denn sie und Ross haben sich einer Art Techno-Sekte "Konvergenz" angeschlossen (die Ross natürlich co-finanziert), die neben der technischen Erringung von Unsterblichkeit (für Superreiche!) auch eine Art Pseudophilosophie / Weltanschauung um dieses Ziel herum gebaut hat: Denn da sind nicht nur Techniker, Ärzte und Biologen am Werk. Auch Mystiker, Soziologen, Philosophen und gar Avantgarde-Künstler gehören der heterogenen, internationalen Gruppierung an. Ziel ist nicht unbedingt "Aufbewahrung bis zum Zeitpunkt einer gefundenen Heilmethode" für den Kranken. Eher will man innerhalb von Jahrzehnten mithilfe von Nanorobotern "ahistorische" Herrscher-Menschen zu schaffen: "Sterben Sie als Mensch, werden Sie als isometrische Drohne wiedergeboren!" Die Welt wird als dem Untergang geweiht angesehen: permanent in unberechenbarer Bewegung, ohne jemals von Dauer zu sein, allgegenwärtige Vergänglichkeit. Davor haben die Gründer Angst; das wollen sie überwinden. (Eine Art "Transhumanismus"? Vielleicht sogar ausufernd in einen "Transkosmos" - da man sich sogar von der realen, unzuverlässigen Umwelt abkoppeln will - Willkommen in der virtuellen Matrix!) Die Hardware ist zwar mangelhaft, aber man kann ihr mit neuer Software beikommen!
Unsterblichkeit - letztlich DER übliche, sattsam bekannte Traum von Hybris befallener Milliardäre, nachdem diese in dieser Welt alles andere erreicht (oder zusammengestohlen) haben! Expansionswille bis in alle Ewigkeit! Allem schein-philosophischen Schwadronieren zum Trotz: Unsterblichkeit fehlt schlicht dem Magnaten noch in seinem Allmachts- Portefeuille.
Leben, Sterben, Unsterblichkeit - das MENSCHLICHE Dasein und Bewusstsein vs. Wahn / Trugbilder sind Themen des Romans. Während Ross versucht, auch die Todes-Barriere zu durchbrechen, dem Schicksal zu trotzen, mit aller Macht in neue Dimensionen menschlicher "Existenz" bzw. "Bewusstseins" vorzustoßen, bleibt Jeff dem Diesseits verbunden: Leidenschaftlich verteidigt er "die Ansicht, dass es des Menschen Bestimmung ist, im Hier und Jetzt zu leben" [aus dem deutschen Vorwort des Romans].
"Warst du nicht der Mann, der mich über die Vergänglichkeit des Menschen aufgeklärt hat? Unser Leben wird in Sekunden bewertet. Und nun verkürzt du es auf eigenen Wunsch?" fragt Jeffrey seinen Vater, der kühl, prozessorientiert und expansionsbewusst wie eh und je antwortet: "Ich beende eine Version meines Lebens, um in eine andere, weitgehend permanente Version einzutreten." Menschsein als optimierbare, reloadbare Software - siehe oben!
So reist Jeff also aus New York zu Vater und sterbenskranker Artis in eine unterirdische Bunkerstadt irgendwo in Zentralasien: Kasachstan, Kirgisien, Nord-China? Dort befindet sich das Zentrum der "Konvergenz" - weit weg von allen möglichen Katastrophen, Apokalypsen und Kataklysmen, die deren Anhänger und Mitglieder für die Zukunft erwarten.
Bei seiner Wanderung durch die Labyrinthe des Gebäudes lernt er verschiedene Menschen und deren Einstellungen zum "Projekt", zum Leben allgemein kennen: die Gründer des Unternehmens (bzw. der Sekte), Priester, Ärzte ... Personen, die sich in den Kryo-Schlaf begeben, weil sie todkrank sind oder schlicht "vor der Zeit", in der schlichten Hoffnung auf Unsterblichkeit.
Man kann in Jeffreys Gang durch die Räume eine metaphorische Reise herauslesen, oder - ja - eine fast rituelle, schrittweise Initiation: Helikopter-Anflug durch die Wüste, Warteraum, Vorzimmer, Wiege, Essenraum, Grünpark, Hospiz, Körperkapseln / Aufbewahrungsort der "Schläfer". Alles in einem von der echten Welt isolierten, fensterlosen Gebäude ...
Jeffrey bleibt distanziert und skeptisch, was den Charakter von Ross angeht. Der will doch auch nur "das Ende der Welt in der Hand haben!" (wie es auf der letzten Romanseite heißt).
Doch wird er in dieser Ansicht erschüttert, als der Vater unerwartet erklärt, zusammen mit seiner Frau quasi aus dem Leben zu scheiden und sich ebenfalls einfrieren zu lassen. Hat Ross doch echte Gefühle, empfindet er - für den Sohn ungeahnt - tiefste Gefühle für Artis, ohne die Ross nicht mehr weiterleben zu können glaubt? Bei aller Kritik an der Ross-schen Weltanschauung: Letztlich ist er doch Mensch, sein Reichtum, Status usw. schützt ihn nicht vor der Trauer angesichts des Verlusts und davor, seine Existenz weiter lebenswert zu finden. Er hing und hängt an zumindest einem Menschen: Artis. Sein zornig-entschlossener, scheinbar rationaler Versuch, den Tod technisch zu überwinden und damit sich auch wieder mit Artis zu vereinen, erscheint dem Außenstehenden doch wieder als zutiefst menschliche Rebellion. Wenn auch vergeblich, kläglich, in die Irre führend.
Artis wird kryogenisiert, der aufgewühlte Vater springt doch von seinem Vorhaben ab. Vater und Sohn kehren nach New York zurück.
Der zweite Teil des Romans setzt etwa zwei Jahre nach dem "Tod" von Artis ein. Der Vater hat inzw. alle Vorstandsämter abgegeben, erscheint äußerlich verlottert. Tatsächlich scheint ihm in dieser Welt nichts mehr wirklich wichtig. Er bemüht sich noch, seinen Sohn Jeffrey irgendwie zu "stabilisieren": ihn in seiner Finanz-Firma unterzubringen, ihn mit einem gutem Erbe auszustatten. Jeffrey entsagt allen diesen Versuchen. Die Schilderung seiner Beziehung zu Emma und ihrem jugendlichen Adoptivsohn Stak großen Raum ein. Und zum Job von Emma in der "Behinderten-Schule". Man fragt sich bei der berührenden Schilderung eines Schulfestes, wer WIRKLICH vom Wahn befallen ist! Oder einen - gewissen - "Mangel" aufweist … Zu bedauern ist. Wer wirklich Bewusstsein hat, tiefe, echte Gefühle empfindet! Diese Kinder? Oder jene Personen dort in ihrem Bunker, die sich eine Elite dünken?
Endlich ist Ross bereit, seiner Artis zu folgen und bittet Jeffrey erneut, ihn auf seinen letzten Weg zur "Konvergenz" nach Mittelasien zu begleiten. Das tut der Sohn, nachdem er Emma verliert. Denn Stak ist verschwunden und daran zerbricht auch die Beziehung zu Jeffrey. Später, schon in Mittelasien im "Kryo-Totentempel" klärt sich unerwartet, wohin Stak ging: In einem Video ist - nahezu in Echtzeit zu sehen - wie Stak als Soldat im Ukraine-Krieg erschossen wird!
Bis auf einen einseitigen, kurzen Nachsatz endet damit der Text: Der alte Milliardär geht ein in die (vermeintliche) eisige Unsterblichkeit, während der lebenshungrige, ukrainisch-amerikanische Junge im Krieg als einer von vielen umkommt. Ein weiteres Universum nebenbei ausgelöscht.
Dieses wirbelnde Chaos, die katastrophale Gewalt, des Menschen gegen den Menschen und des Menschen gegen die Natur, durchzieht den gesamten Roman. Wenn man sich das Werk DeLillos ansieht, kann man darin einen gewissen roten Faden erkennen: Das Thema "Katastrophe" bewegt den Schriftsteller dauerhaft. In der italienischen Wikipedia-Beitrag zum Roman heißt es (im April 2023) sinngemäß: "Das Thema der Katastrophe ... erreicht in Zero K einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, da das Projekt der Überwindung der Sterblichkeit den Willen impliziert, die Beziehung zur Zeit, zur religiösen Dimension, zu jeder Art von sozialer Beziehung oder kultureller Ausarbeitung und sogar zur Kommunikation neu zu definieren und zu kennzeichnen. Es ist daher kein Zufall, dass die ständigen Bewohner der Konvergenz eine neue Form der Kommunikation jenseits der natürlichen Sprache entwickeln."
Auf der letzten Seite schildert Jeff, wie er in einem Bus durchs morgendliche New York fahrend ein offenbar geistig behindertes Kind beobachtet: Makrozephalie. Mit diesem Jungen teilt er das erhabene Gefühl beim Anblick der aufgehenden Sonne. Das kann man als "einstürzenden Himmel" wahrnehmen ... Oder als staunenerregende, enge Berührung von Erde und Sonne. Jeffrey erkennt: " Ich brauchte das Himmelslicht nicht. Ich hatte die [erfreut-ehrfürchtigen] Schreie des Jungen, sein Staunen."