Michail J. Saltykow-Stschedrin: Die Geschichte einer Stadt. (1869)
Die ins Groteske gesteigerte satirische Chronik ist eine der bedeutendsten Schöpfungen Saltykow-Stschedrins und zählt zu den Spitzenwerken der Weltliteratur auf dem Gebiet der Satire.
Die Hinwendung zur geschichtlichen Vergangenheit Russlands war für Saltykow-Stschedrin ein Mittel, die Brutalität und Tumbheit des gutsherrlich-autokratischen Systems, der zaristischen Selbstherrschaft vorzuführen und zu demonstrieren, dass die Grundlagen der Staatsordnung sowie des gesellschaftlichen Lebens seit der Bauernreform von 1861 die gleichen geblieben waren und darum "eine Geschichte möglich sei, deren Thema die ständige Furcht ist"; denn noch immer "prügeln die Stadthauptleute und zittern die Spießbürger."
"Die Geschichte einer Stadt" ist keine parodierte Geschichte Russlands am Beispiel einer Ortschronik von Statthalterschaften in irgendeinem Ort "Glupov" (Dummshausen). Saltykow meinte einmal darauf angesprochen, dass er, wenn er das beabsichtigt hätte, eher das Kapitel über die 6 Stadthauptmänninen zu einem Roman ausgebaut hätte. (Jenes schwankartig-bittere Kapitel ließe sich in der Tat als eine Parodie der verschiedenen russischen Zarinnen des 17. und 18. Jahrhunderts ansehen, die oft durch turbulent-bizarre chaotische Palastrevolten an die Macht kamen.) Vielmehr ist es eine Satire auf die Staatsordnung, das System, den Charakter des russischen Staates.
Ein Staat, der Statthalter wie Brudasty hervorbringt - eines lauten, herrischen aber letztlich tumben Kerls, der nur in dumpfen Kategorien weniger minderwertigkeitskomplex-behafteter, aggressiver Phrasen "Das lasse ich mir nicht bieten!" und "Ich werde euch zerschmettern!" denkt. Denn Stadthauptmann Brudasty trägt eine Spieldose in seinem hohlen Blechschädel. Diese "Dose" spielt die o.g. immer wieder gleichen Phrasen bzw. "Gedanken" in Dauerschleife ab. An wen erinnert mich doch gleich dieser Typ derzeit ...? Saltykow wurde doch tatsächlich von Kritikern angegriffen, die ihm dümmlich vorhielten, dass er historisch unwissend sei: Denn im 18. Jahrhundert hätte es doch noch keine Spieldosen gegeben! Stschedrin wehrte sich dagegen z.B. in seiner Polemik gegen den Kritiker A. Pypin: "Es ist offensichtlich, dass er völlig vergessen hat, dass das Sinnbildliche auch ein Bürgerrecht besitzt. Dass es im 18. Jahrhundert keine "Spieldose" ... gab, steht unzweifelhaft fest. Aber warum alles so buchstäblich auffassen? Es geht ja gar nicht darum, dass Brudastys Kopf eine Spieldose enthielt, die die Weisen ... aufspielte, sondern darum, dass es Leute gibt, deren ganzes Dasein sich in diesen beiden Worten erschöpft. Gibt es solche Leute oder nicht?"
Auch dies erinnert mich an ganz aktuelle Reaktionen von Kommentatoren oder Trollen z.B. zu russischen Pop-Songs auf YouTube: Kürzlich sah ich einen nachdenklichen, bitteren Song "Gori, gori, gori" von Monetotschka - übrigens von 2019, also vor der Ukraine-Invasion. Da meinen doch wirklich Leute, der Song beziehe sich auf die Waldbrände in Sibirien, aber irgendwie seien die nicht korrekt wiedergegeben bzw. die Sprache sei so verwirrend ... Die Sängerin sei daher nur mäßig begabt! Würdige Nachfolger des o.g. Pypin ... Monetotschka sieht eher ihr Kulturland Russland abbrennen und in Barbarei zurückfallen. Leider gab es nur wenige heftige Abwehr ("Verpiss dich aus diesem Thread, wenn du nichts begreifst oder du hier nur Künstler verhöhnend Unfrieden stiften willst!")
Ja: Man kann derzeit nicht einmal kritische russische Literatur aus dem 19. Jahrhundert lesen ohne Bezüge zur aktuellen brutalen Realität herzustellen bzw. sich zu fragen, inwiefern Rossija eigentlich überhaupt und irgendwie in den letzten 150-200 Jahren vorangekommen sei?
Das Staatssystem bringt auch Stadthauptleute wie Murr-Dustermann hervor (russisch: Urgjum-Burtschejew). Der Name und das unheilvoll-düstere Wesen erinnern an den Minister, der in der Regierungszeit Alexander I. das Volk grausam terrorisierte und berüchtigte Militärsiedlungen anlegen ließ: Graf Araktschejew. Während Brudasty den Reigen der beschriebenen Stadthauptleute eröffnet, beschließt ihn Murr-Dustermann: Er wird versuchen, die Stadt neu zu organisieren (alles platt machen), den Fluss zu stoppen bzw. seinen Lauf zu ändern, indem er den Schutt der Stadt und unzählige Menschen in die Fluten werfen lässt - ohne natürlich Erfolg zu haben: Den natürlichen Lauf der Welt hält auch ein faschistoid wirkender Dustermann nicht auf. Obwohl er auch bei den Nachbarn zeitweilig große Katastrophen hervorruft: Die werden nämlich von der Flut des zeitweise aufgestauten Gewässers überrollt. An wen bzw. was erinnert mich das wieder aktuell noch einmal ...? Da Putin, ähm, Mustermann natürlich keinen dauerhaften Erfolg hat, verlegt er einfach die Stadt: Er ignoriert die Realität des störrischen Flusses und lässt die Stadt unter einem anderen Namen "Unbeugsamshausen" irgendwo in der Steppenödnis als Barackensiedlung wiederaufbauen. Aber nach langer, langer Zeit wird auch dieser "Fluchtort" für sein Zuchthaus vom "Es-Sturmwind" aus dem Norden hinweggefegt. Also von Außen ...! Hmh. Die Geschichte endet! Die russische Geschichte endet? In einer Apokalypse? Vielleicht! Vielleicht aber auch und hoffentlich eher endet hier nur die Zeit der autokratischen Selbstherrscher und ihrer Büttel. Eine erschreckend-erstaunliche Beständigkeit - hinweg durch Feudalismus, Kapitalismus, Imperialsimus, Kommunismus …
Saltykow-Stschedrin geißelt aber auch die passive Haltung des Volkes, das in nahezu unerschöpflicher Langmut all die Ungeheuerlichkeiten der zarischen (und anderer!) Terrorregimes erduldete immer noch erduldet. Ja sogar in Treue und bei besonders großer vermeintlicher Gefahr MITTRÄGT. Die dem Leben entnommenen Begebenheiten hat der Autor verdichtet und zu einer erschütternd allgemeingültigen Aussage gestaltet. Mochten die "Heldentaten" der Stadthauptleute von Dummshausen noch so phantastisch erscheinen, die Wirklichkeit war und ist reich an "Helden", die noch phantastischere Taten vollbrachten.
Verspottet und erniedrigt der Autor Volk und Land, verzerrt er die russische Geschichte, wie im russischen Wikipedia-Artikel vom April 2022 zitiert wird? Mitnichten: Eer darf jedoch fassungslos ergrimmt sein! So wie derzeit wohl auch die meisten Russlandfreunde enttäuscht, frustriert und - gelinde gesagt - ergrimmt sind über diese schweigende, feige, unterwürfige Bevölkerung!
Den negativen satirischen Figuren und Bildern, den "Stadthauptleuten", den "Dummshausenern" und der Stadt "Dummshausen" stehen zwei zwei positive Bilder gegenüber. Stschedrin hat sie nicht herauszuarbeiten versucht; dennoch geben sie genügend Aufschluss, im Namen welcher Ideale er Kritik am bestehenden System geübt hat. Dies sind die Bilder vom "Strom" und vom unabwendbaren "Es". ("Aber der Strom fuhr mit seinem Gemurmel fort, und in diesem Gemurmel war etwas Verführerisches, fast Unheilschwangeres vernehmbar ...", "Voller Wut jagde 'Es' heran, die Erde aufwühlend, krachend, heulend, stöhnend und bisweilen irgendwelche dumpfe, krächzende Laute ausstoßend. Obwohl dieses 'Es' noch gar nicht nahe war, geriet in der Stadt schon die Luft ins Schwanken ...") Das Bild vom "Strom" symbolisiert die Elementargewalt des Volkes als die grundlegende Kraft der geschichtlichen Entwicklung, das vom "Es" die Elementargewalt des revolutionären Sturms, der der Selbstherrschaft den unvermeidlichen Untergang bringen soll. Das "Es" war die Stschedrinsche Umschreibung des Wortes 'Revolution'.
Auch ein Umsturz ist kein Garant für eine mentale, wirklich elementare Wende, wie wir inzwischen wissen. Oft wird nur der Kaiser und manchmal sogar die Ober-Kaste ausgewechselt; aber nach wenigen Jahren sieht es genauso aus wie zuvor.
Das für mich Erschütterndste erinnerte mich prompt an den kürzlich gelesenen Erzählungsband "Die rote Pyramide" von Sorokin: Die Beständigkeit der wüsten Gewalt, die permanente Kriegführung gegen die eigene Bevölkerung. Die völlige Fehlinterpretation / das Unverständnis der (europäischen) Aufklärung, deren brutal-tumb-mechanische Nachahmung in Russland um den Staat dort irgendwie optisch zu modernisieren - aber völlig ohne das Wesen der Aufklärung zu begreifen. Da werden ganze Dörfer ausgerottet, um ein paar Kopeken Steuerrückstände beizuschaffen, auch die Einführung der Kartoffel oder anderer Gewürze kostet viele Menschenleben und immer wird geprügelt, gesoffen, geprügelt gesoffen, die Straßen gepflastert und später wieder entpflastert usw. Und so manchem Stadthauptmann ist der dumme, störrische Pöbel so zuwider, dass er am liebsten einfach mit der Kanone draufhalten möchte. GENAUSO und exakt die selben Worte verwendend schilderte es Sorokin in der Erzählung "Lila Schwäne"! Erstaunlich und was für ein Zufall für meine Lektüre! Jetzt erst begreife ich das Zitat, die Verneigung Sorokins vor Saltykow-Stschedrin und weiß nun - zufällig - Sorokins Erzählung um so mehr zu würdigen. Und fühle die Bitterkeit Sorokins: Dasselbe Grundproblem wie 1869 ... haben wir im Russland des Jahres 2022! Zum Verzweifeln.
Die Stadt "Dummshausen" ist die satirische Verallgemeinerung der ganzen "Ordnung der Dinge", der autokratischen Ordnung Russlands. Diese Ordnung bezeichnet Stschedrin als "dumm", denn sie fußt auf brutaler Unterdrückung der Menschen und ist eine Abkehr von der Vernunft. Und das im erklärten Zeitalter der "Aufklärung" ...! In seiner Vorstellung als Humanist und eben Aufklärer konnte diese vernunftwidrige und ungerechte Ordnung nur dort bestehen, wo es den Menschen an (politischem) Bewusstsein, Bildung und Verantwortungsgefühl fehlt und diese mit Gewalt niedergehalten werden.
Die Stadthauptleute, die Herrscher, "Sie alle haben die Einwohner verprügelt, nur - die ersten haben selbstherrlich geprügelt, die zweiten haben die Beweggründe ihrer Handlungsweise mit zivilisatorischen Erfordernissen erklärt, und die dritten wollten, dass sich die Einwohner in allem auf ihre ritterliche Kühnheit verließen. Solche Verschiedenheit der Maßnahmen musste sich natürlich auch auf die innere Verfassung der Stadtbewohner auswirken: im ersten Falle zitterten die Einwohner unbewusst, im zweiten zitterten sie in dem Bewusstsein, dass alles zu ihrem eigenen Vorteil geschehe, im dritten erhoben sie sich zu einem Zittern voller Vertrauen."