Michal Hvorecky: Tahiti Utopia. (2019)


Die Erzähl-Route: ... Darlegung der langen Verhandlungen zum Versailler Vertrag und die telweise vergeblichen Bemühungen zur Bildung neuer Nationalstaaten (darunter eben der Slowakei). Vertreibung und Flucht der Slowaken durch Österreich und Deutschland. Überfahrt nach Tahiti. Aufbau derneuen Heimat im tropisschen Urwald. Loslösungsversuche von Frankreich. Besuch im "heutigen" nationalistischen und nach wie vor geschichtsleugnenden und eu-abtrünnigen Groß-Ungarn. Stefaniks initiale, ideengebende Bekanntschaft mit Tahiti ...


Die einen Kritiker schreiben von einem klugen Traktat über neuen Nationalismus, illiberale Demokratien, Geschichtsklitterung, polit. Manipulation bzw. Instrumentalisierung der Presse und Medien.

Andere Rezensenten loben einen amüsanten, erfrischenden Blick auf die mitteleuropäische Geschichte.

 

Anfang und Ende des Romans sind in poetischer Sprache gehalten, der ganze Text dazwischen in sehr nüchtern-schmucklosem Stil, der an historisch-beschreibende Abhandlungen erinnert. Wäre der Inhalt nicht exotisch (weil faktenhistorisch falsch), dann wäre es ermüdend. So aber wird damit eine erstaunliche Authentizität des Geschilderten erzeugt.

 

Die Story entspricht dem inzw. recht reichem Genre utopisch-fantastischer Alternativ-Historien.

Einer der Gründerväter der CSR ist der charismatisch-legendäre slowakische General Stefanik - eine schillernde Persönlichkeit: konservativ-sentimentaler Romantiker, Dichter, Astronom, Weltreisender, Schürzenjäger, französischer Staatsbürger, genialer Militär im 1. WK, Flieger-Ass, slowakischer Nationalheld. Der 1919 nur 39jährig bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben kam.

Hier im Roman lebt er einige Jahre länger als in der realen Geschichte, erlebt die Unterdrückung der Slowaken durch das repressive ungarische Horthy-Regime, das Ungarn in seinen alten Grenzen weitgehend erhalten und vollständig magyarisieren will. Der im chauvinistisch-imperialistisch-nationalistischem Sieges-Rausch taumelnde Westen (völlig bar geheuchelter demokratischer Werte) ignoriert die Wünsche und Forderungen "kleinerer" Völker bzw. "niederer" nicht-westeuropäischer Staaten. Er führt schließlich das slowakische Volk in einem märtyrerhaften Exodus in die neue Heimat Tahiti - seinem Paradies!

Der Roman führt bis ins Jahr 2020. Bis auf die neue Heimat der Slowaken (die da inzw. übrigens zu völlig anderen "Slowaken" geworden sind), gleicht der Zustand jener Welt erstaunlicherweise (oder erschreckenderweise ... im jeden Fall "BEZEICHNENDERWEISE" der uns umgebenden realen ...

 

"Amüsant" fand ich den Roman überhaupt nicht.

Er ist eher ein gewitzt-melancholischer Blick auf mitteleuropäische Geschichte aus hierzulande mehrfach ungewöhnlicher Perspektive: Der schicksalhafte Gang Mitteleuropas seit dem 1. Weltkrieg anhand des Beispiels Ungarns und der Slowakei - natürlich nicht zufällig: aus gegebenem aktuellen Anlass nationalistisch-populistischer Wiederauferstehung dort ...

Der Autor erklärt sogar ausdrücklich, warum er das in Form einer Alternativ-Historie tut, indem er einem seiner Helden, der Historikerin und Großenkelin Stefaniks, ein ebensolches Buch, wie sein vorliegendes schreiben lässt - nur anders herum: Nehmen wir an, die Slowakei hätte - zumindest zeitweise - mit den Tschechen eine Doppelrepublik gebildet - nennen wir sie einmal CSSR ... Eigentlich will sie eine mitteleuropäische Geschichte schreiben über die Zeit nach dem 1. WK, den Verrat der chauvinistischen, selbstsüchtigen Siegermächte, Enttäuschungen und Scheitern bei den Staatenbildungen, Flucht, Vertreibung, Genozide usw. Aber die Sache sei auch im roman-fiktiven Jahr 2020 heikel und eigentlich fühle sich die Gesellschaft bzw. die Zielgruppe von solcher Thematik gelangweilt! Also erfindet sie eine Alternativgeschichte, die der unseren realen entspricht. Und eckt an!

 

Tatsächlich schreibt Hvorecky eine Geschichte über all das o.g.

So erhellend kann die reale Geschichte mit brillant verzerrendem Brennglasblick via Alternativ-Geschichte sein! Durch diesen Trick erhält das Geschilderte eine Art Allgemeingültigkeit und kann von mehr Menschen verschiedener Nationen angenommen und nachdenklicher akzeptiert werden: denn so war es ja nicht. ... Obwohl: Eigentlich war es "im Kern" doch genau so!

In dieser Form nahm ich bisher noch nicht wahr: diese geradezu makabren "Anekdoten" und lebendig-bildhaften Details über die schäbigen Verhandlungen zum unseligen Versailler Frieden, aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, aufkommenden Faschismus, dem Leid der Vertreibungen und fassungslos machenden "Umvolkungs-Bemühungen" von fast allen Seiten - im Roman zumindest anfänglich auch der Slowaken selbst (gegenüber den Tahitianern). Es sind allesamt tatsächliche Erlebnisse, Bilder, Beispiele ... die hier in eine andere Story neu zusammengestellt wurden. Und das ist erschütternd echt - bis in die Gegenwart hinein.

 

Gelegentlich trifft man auf Passagen, die - passend zum Genre - unglaublich und phantastisch anmuten, aber paradoxerweise tatsächlich real passiert sind: Wussten Sie z.B., dass tschechische und slowakische Soldaten des österreichisch-ungarischen Heeres im Verlaufe des Krieges desertierten und sich als tschechoslowakische Legionen der Entente anschlossen? Im Kampf für die Begründung eines eigenen von Österreich und Ungarn unabhängigen Nationalstaats? Und dass sie, um von Westen her wieder in die Kämpfe eingreifen zu können, den Globus komplett umrunden mussten? Sie setzten sich in die Züge der transsibirischen Eisenbahn, um Russland Richtung Pazifik zur Einschiffung nach Amerika zu durchqueren. Sie wehrten russische Angriffe zur Entwaffnung ab und schufen noch vor der eigenen offiziellen Staatsgründung wenigstens zeitweise soetwas wie ein "Territorium unter tschechischer Hoheit": und zwar ein paar tausend Kilometer Bahngleis durch Sibirien ...! Eine solche "interessante" Auslegung militärischer Aktionen ausländischer Truppen im bürgerkrieg-geschüttelten, untergehenden Zarenreich hatte ich persönlich wirklich noch nicht registriert.

 

Die letzten Seiten, schon nach der historischen Abhandlung, erhellen den emotionalem Ursprung von Stefaniks Idee, nach Tahiti zu gehen: seine eigene tragische Liebesgeschichte zu einer Insulanerin, die er während einer astronomischen Expedition in Polynesien erlebte.

 

Diese Geschichte wandelte nochmals meine Sichtweise auf das Geschehen: eine - vielleicht teilweise naiv-missverständliche - Utopie über die Vereinigung zweier Welten: seiner europäischen bzw. französisch-slowakischen mit ihrer polynesischen Natur und Kultur - verwoben mit von der Kunst (Gauguin) erzeugten Sehnsuchts-Projektionen. Das endet für beide Liebenden, v.a. aber für die Frau bitter und tödlich. Aber die hybride Frucht daraus überlebt und ist etwas Neues, schafft Neues.

 

Hier sei auch auf das unglücklich unstete Leben des expressionistisch-symbolistischen Malers verwiesen, der übrigens Tahiti so malte, wie er es sich wünschte (auch eine Utopie), wie es aber vielleicht nie war, jdf. aber spätestens nach dem zerstörerischen Kontakt mit den französischen Kolonisatoren nicht mehr war.

Und so zeigen sich mit etwas anteilnehmenden Eintauchen nach und nach immer neue Schichten des Romans.

 

Obendrein sehe ich deutlich eine Hommage des Autors an "Mit-Staatsgründer" Stefanik, trotz aller nicht beschönigter persönlicher Schwächen und kritisch zu sehender Einstellungen eine fähige Führungspersönlichkeit und respektabler Mensch zu dessem 100. Todestag im Jahr 2019. Und ein wenig schöner Traum über ihn kommt hinzu. Schön, dass Autor Hvorecky ihn uns selbstverliebten Deutschen und Franzosen vorstellt und nahebringt. Und zudem auch uns die Leviten liest.

 

Was hat sich tatsächlich so zugetragen, was so ähnlich, was wurde kunstvoll abstrahiert? Im besten Fall wird sich der Leser interessiert der Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa zuwenden.