Stefan aus dem Siepen - Luftschiff

Stefan aus dem Siepen: Luftschiff. (2012)

Ein novellenartiger Kurzroman. Das Debüt des zur Zeit seines Erscheinens knapp vierzigjährigen Diplomaten Stefan aus dem Siepen. Um 2009 beendete er seine diversen zeitweiligen Aufenthalte in verschiedenen deutschen Auslandsbotschaften zw. China, Russland und Luxemburg und arbeitet seither im Berliner Auswärtigen Amt. Und lebt bürgerlich gesetzt und dauerhaft in Potsdam - natürlich mit (heutzutage) kinderreicher Familie.

 

 

Ende der Zwanziger des vorigen Jahrhunderts begibt sich der Berliner Oberregierungsrat Hermann Neise, Beamter im Justiz-Ministerium, für eine Urlaubreise an Bord des luxuriösen Groß-Zeppelins "Berlin". Ein Direktflug nach New York. Der geschätzt Mittvierziger ist die Korrektheit in Person. Ordnung, Klarheit und alltägliche Rituale sind ihm Voraussetzung für einen gelungenen Tag, ja für ein gutes, ausgefülltes Leben (- über dessen tieferen Sinn er sich dann keine Gedanken mehr machen muss). Er ist "Junggeselle" mit nur wenigen bewusst kurzzeitig gewählten Halbbeziehungen, die er nach Belieben kurzerhand beenden kann, ehe größere Emotionen oder gar Verantwortlichkeiten, Rücksicht auf den anderen Menschen aufkommen könnten. Sie dienen also eher gelegentlichen körperlichen Bedürfnissen, aber auch seinem Ego: sich gelegentlich seiner Wirkung auf Frauen - oder generell auf andere Menschen - zu vergewissern. So sind nicht nur seine seltenen Beziehungen zu Frauen angelegt, sondern generell zu anderen Menschen. Freunde scheint er nicht zu haben. Aber auch keine Leidenschaften oder gar Laster. Er liest viel, er raucht in Maßen (gehört sich so), er isst normalerweise irgendetwas in Maßen (z.B. Würstchen mit Kartoffelsalat, aus der Kantine), - arbeitet ohne Unterlass für seinen Dienstherrn. Er lebt regelmäßig, tut stets das Gleiche (jeden Freitag ins Stammlokal zum Abendessen) und kam bislang wenig in der Welt herum: Er hatte auch nie das Bedürfnis danach; Venedig war sein bislang einziges, halbwegs "exotisches" Erlebnis. Dennoch ist sein Benehmen, Auftreten, Konversation - wenn nicht wirklich weltmännisch - so doch galant und angemessen vornehm. Comme il faut.

 

Eigentlich wurde mir nicht klar, weshalb sich dieser Mensch für eine extravagante Luftreise entschied: Es lockte ihn wohl tatsächlich einmal das Außerordentliche, das von der Erde losgelöste. Und natürlich könnte sich der Leser für Herrn Neise eine langwierige, beschwerlichere Reise mit Bahn, Automobil oder Schiff noch weniger gut vorstellen.

 

Empfangen und eingeführt wird Neise vom überaus dienstbeflissenen, aufmerksamen und v.a. gleichfalls ordentlich-korrekten Steward Diehl. Ihn wird Neise mögen. Er macht auch deshalb Eindruck auf ihn, weil dieser ihm während der Fahrt erklären wird, auf dem Luftschiff wirklich zuhause zu sein: Der den Erdboden gar nicht mehr betreten mag, schwierigen, sich eher beängstigenden irdischen Zwängen nicht mehr hilflos auszusetzen. Der liebste Zustand ist ihm, mit einer klaren Aufgabe (ohne größere Verantwortung) gewissenhaft unterwegs zu sein, besitzlos bis zur Unpersönlichkeit, in seiner (kahlen, unbewohnt wirkenden) Kajüte zu übernachten. Angebote für den beruflichen Aufstieg schlug er übrigens aus: Sein Leben hätte sich verändert, er hätte Verantwortung für bzw. ÜBER andere übernehmen müssen, worin er als genügsamer Mensch ohne persönliche Ambitionen (sich zu "verbessern") für sich keinen Wert sah: Das lag ihm nicht. Als einfacher Steward würde er gern weiterhin sein Leben "fliegend" verbringen und beenden. Gerade dieses Erlebnis, dies einfache Lebensbekenntnis wird Neise nicht nur beeindrucken ...

 

Der Zeppelin hebt mit gut 65 Passagieren und ebenso vielen Besatzungs-Mitgliedern ab. Es scheint irgendein Problem zu geben: In ein, zwei Sätzen deutet der Autor an, dass eine Person am Boden während des Starts offenbar aufgeregt über etwas "Ungutes" Mitteilung machen wollte. Es folgt jedoch im Laufe der weiteren Story keine weitere Aufklärung - weder gegenüber den Passagieren, noch gegenüber den meisten Mannschaftsmitgliedern oder dem Leser.

 

Die Überfahrt soll gut drei Tage dauern, nur etwas weniger als die Atlantik-Überquerungen der damals modernsten Ozean-Riesen.

Geschildert wird der funktionierende, tadellose Tagesablauf der Reise: verschiedene exzellente Mahlzeiten, die erlesen und modern ausgestatteten Salons, Restaurants, Bibliothek, Rauchsalon usw. Die Bekanntschaften mit verschiedenen Mitreisenden: dem zackig-herrischen, ehrgeizigen, arbeitsamen großindustriellen Generaldirektor Pohlschröder, einem aus - nicht zu verleugnenden - kleinbürgerlichem Milieu stammenden Berliner Paar, einer um ihren verstorbenen Mann trauernden schwedischen Witwe Mörksen samt zwei Töchtern, einem namenlosen blasierten Gesandten (also Diplomaten), dem Müßiggänger und Genussmenschen Eckstedt und dem seltsamen, lebensmüde scheinenden, greisenhaften Herrn Draudt.

 

Auffällig drehen sich die meisten Gespräche um das Warum und das Ziel der Reise. Der "Reise des Lebens"...

Der tatkräftige, rationale Pohlschröder baute ein Firmenimperium auf und überlässt nichts dem Zufall, will selbst die Firma führen. Mit seiner Lebens-Philosophie kann ich mich persönlich noch am ehesten identifizieren:

"Was man tut, spielt keine Rolle - letztlich könnte man alles tun. Es kommt nur darauf an, wie man es tut." - "Und wie sollte man es tun?" - "Als gäbe es nichts auf der Welt, was man sonst tun könnte. [...] So belanglos sie [die Job-Angelegenheiten, das eigene Tun = HM] Ihnen auch scheinen mögen: Sie haben nichts anderes! Jeder Mensch ist gezwungen, sich an irgendetwas festzuhalten, sonst fällt er ins Nichts." - "Aber wenn das, woran ich mich festhalte, mit mir ins Nichts fällt?" - " Wenn alles fällt, fällt nichts."

Allerdings gerät der Kümmerer, der stets die Kontrolle behalten will, der nichts delegieren möchte, im Verlauf der Reise an seine physischen und psychischen Grenzen. Die massiven Anfragen für persönliche Entscheidungen überfordern ihn bis zur - eines Tages einmalig passierten offenbarten - Verzweiflung. Auch erklärt er irgendwann, einfach keine Zeit dafür zu haben, sich zusätzlich zu seinen ohnehin überbordenden Aufgaben auch noch damit zu beschäftigen, weshalb sich das Luftschiff verspätet, um wie lange sich die Landung verzögert und wohin es überhaupt fliegt! Über sein Projekt hinaus verfügt Pohlschröder über keine weiteren Kapazitäten, das Leben, das Universum in seiner Gänze zu erahnen. Über den Tellerrand zu schauen, die Umgebung wahrzunehmen. Er verzettelt sich geradezu. Immerhin sieht er ein persönliches Aufgaben-Ziel. Was ihm an visionärem, metaphysischen Geist fehlt, haben andere im Übermaß:

 

Denn Müßiggänger Eckstedts Ansichten sind ganz gegensätzlich: "Hat die Welt dort draußen etwas mit mir zu tun?!", erklärt er barsch Herrn Neise. Er unternahm die Reise nicht als "schnöde", notwendige Geschäftsreise (wie Pohlschröder), sondern rein aus ziellosem Genuss heraus. So unterhält er seine Umgebung auch gern mit Fabulieren über Zigarren und guten Weinen. Es bleibt unbekannt, als was er tätig ist. Mit Sicherheit arbeitet er nie, gibt sich der genussreichen Völlerei hin. Banale "Arbeit", Aufbau, physisches, zielgerichtetes Schöpfertum betrachtet er ungern und wenn, nur abfällig.

 

Während der kleine Steward Diehl seine bescheidene Lebensaufgabe im Schiff fand und froh ist, der Erde zu entfliehen, sich also eher vor der Erde fürchtet (wofür es vielleicht handfeste Gründe gab und wenn nicht, dann eben die Furcht, im gewalttätigem irdischem Gedränge zu scheitern), ist es bei Eckstedt pure dekadente Abgehobenheit, die ihn von den Niederungen der Erde, von Aufgaben fernhält. Der Steward scheint sich zu fürchten, der Dandy verachtet sie.

 

Draudt wiederum erscheint als gebrechlicher, ja gebrochener Greis, - in schlechter körperlicher Verfassung. Auch er ist froh, unterwegs zu sein, kein bestimmtes Ziel zu kennen, eigentlich nicht ankommen zu wollen: "Ich kenne kein Ziel oder sagen wir ... keine Wahrheit, die nicht früher oder später zu Bruch gegangen wäre. Sicher ... manche bringen es auf zweitausend Jahre, erwecken noch im biblischen Alter einen rüstigen Eindruck." Damit spielt er auf die Religion an. Auch diese bedeutet ihm offensichtlich nichts mehr. Wir erfahren nicht, welche Enttäuschungen er erlitten haben mag, welche furchtbaren Dinge er sehen musste. Gerade ihm verweigert der - eigentlich doch auch ziellose - Held Neise jegliches Verständnis oder Mitleid! Als später, vor "drohender" Landung, der (entsetzte) Draudt einen körperlichen Zusammenbruch erleidet, spottet Neise sogar offen und gefühllos über dessen "Ziellosigkeit" (ob der sich setzen wolle? Oder ins Bett, oder angelehnt stehen bleiben oder einem Arzt vorgeführt?! Das wären ja auch schon mal kleine Ziele!).

 

Wie oben angedeutet: Neises eigene Existenz stützt sich auf eine Fülle von Alltagsroutinen und -strukturen, auf den irgendwie ergatterten Job, dessen Inhalte ihm jedoch überhaupt nichts bedeuten. Die Beziehungen zu den Mitmenschen - wiewohl konversatorisch gediegen zelebriert - dienen mechanischen, ja körperlichen Zwecken. Im Grunde interessieren Menschen ihn nicht. Darin ähnelt er Eckstedt. Seinem gewohntem Berliner Alltag entfernt, von den täglichen Aufgaben- und Ritual-Spektrum entbunden, verliert er jeden inneren Halt und beginnt immer mehr dem Herrn Eckstedt zu ähneln. Allerdings um Klassen tiefer ...

 

Alle Fluggäste gerieren sich über die Maßen kultiviert. Die Manieren sind - bis auf die eines kleinbürgerlichen, vulgären Berliners - über jeden Zweifel erhaben. Auch das feine Luftschiff wird als vorzüglich eingerichtetes, feines Wunderwerk beschrieben. Alles ist an seinem Platz - sowohl (sozusagen) die Möbel, das pünktliche Essen, die Etikette, die absolvierte Konversation, zur Schau gestellte Fassade.

Das Verhalten gegenüber dem Personal ist jovial, von oben herab, großmütig schulterklopfend, kann aber schnell in einen herrischen, herablassenden Befehlston umschlagen. Es kümmert die anderen wenig, solange es nur den "Unterschichten" gilt. Natürlich gibt es auch dabei Grenzen: Man selbst sollte sich nicht selbst zu Emotionen "herabwürdigen". Distanz und Distinguiertheit sind unbedingt zu wahren!

 

Doch etwas verändert sich im Verlauf der Reise, die Atmosphäre wird unwirklich (im echten wie im übertragenem Sinne): Neise beobachtet nach einer Begegnung mit dem riesigen Ozeandampfer Aquitania, der ebenfalls auf dem Weg nach Amerika ist, eine Kursveränderung: Die "Berlin" scheint nach Süden zu gleiten. Dies bestätigt sich auch im Ausbleiben der täglichen Zeit-Rückstellung um zwei Stunden (da man sich ja nach Westen bewegt). Die von Neise in Gesprächen vorgebrachten, bemüht philosophischen Auslassungen zum Thema "Zeitumstellung" beanspruchen einen größeren Raum. Dies bewegt aber nicht jeden Fluggast, z.B. den pragmatischen Pohlschröder überhaupt nicht. Verdeutlicht aber dem Leser im weiteren Handlungsverlauf den Verlust dieses für das bisherige Lebens des Helden doch so wichtigen Kriteriums "Zeit" und "Zeitgefühl". Auch der Maßstab Raum verflüchtigt sich.

 

Die avisierte Ankunft des Luftschiffs in New York verspätet sich. Eine Aufklärung bzw. ein neuer Termin vom Kapitän erfolgt nicht. Die Kernmannschaft (Offiziere) ist nicht zu sehen, bald ist auch vom Kapitän gar keine Rede mehr. Das sich um die Passagiere kümmernde Personal weiß nichts (ist mit der Schiffsleitung ja weniger im Kontakt als die snobistischen Fluggäste) und verrichtet vorschriftsmäßig, ja zunehmend aufopferungsvoll seinen Dienst. Das wird deutlich an gelegentlich eingestreuten Bemerkungen wie der, dass sich kein Musiker der Bordkapelle "Salut d'armour" und kein Kellner mehr erlaubt, am Bordfenster die Außenwelt zu bestaunen. Ausgiebig wird eine Szene geschildert, nach der gelegentlich der eine oder andere erschöpfte Musikant nach 10 oder 12 Stunden(!) Dienst für eine kurze Zeit das Podium verlässt und die anderen weiterspielen. Die vornehme Kundschaft, die tagelang die Musik lediglich als angenehmes, angemessenes Hintergrundgeräusch wahrnahm, empört sich plötzlich. Die "Musik-Arbeiter" werden wieder auf die Bühne befohlen.

 

Neise ist ob der verspäteten Ankunft und der ungewissen Situation beunruhigt. Viele andere Gäste scheint dies nicht zu bewegen. Die Atmosphäre nimmt groteske, traumähnliche Züge an. Das Schiff irrt ziellos durch dichten Nebel. Offenbar tage-, dann wochenlang. Völlig unklar, woher die verbrachten Vorräte stammten? Jegliches Raum- und Zeitgefühl gehen verloren. Auch die Contenance der betuchten Gäste schwindet. Umgangsformen und Kleiderordnung werden lässiger, die Tischgespräche lauter - auch aggressiver. Gelegentlich bricht sich - zunächst nur verbal - Intoleranz gegenüber den Mitreisenden Bahn, die Gespräche geraten banaler bis hin zum bloßen Gerüchte-Austausch (über angebliche Liebschaften an Bord). Auch diese versiegen allmählich aufgrund der Begrenztheit der Personenanzahl und jeglicher anderen Informationsquellen bzw. Außenreize. Einige Gäste verlassen ihre Kabinen offenbar nicht mehr. Andere leisten sich Überschreitungen der Sitte: Auch Neise glaubt sich kurzzeitig verliebt in das plötzlich neu entdeckte, endlich bemerkte, nette Dienstmädchen Erika. Es ist (wie bei ihm üblich) nur kurzzeitig entflammte körperliche Begierde! Schon nach dem ersten und einzigen Sex mit ihr, befürchtet er Konsequenzen, fürchtet, von seiner Freiheit Abstriche machen zu müssen und vermeidet danach feige tunlichst jede Begegnung. Zumal er darüber beschämt ist, sich mit einer solchen formatlosen Frau diesen Standes eingelassen zu haben.

 

Die gut betuchten, noch halbwegs vornehm tuenden Passagiere werden also "lockerer", pfeifen zunehmend auf Etikette, Benimm, ja sogar ansatzweise auf Anstand. Zunächst mit wohl gesetzten, gespreizten Worten verkündete Ansichten über ordentliche, strebsame Lebensweise verlieren an Gültigkeit. Über Lebensziele wurde ohnehin nicht gesprochen: Die spießig großbürgerliche Fassade hat solche Dinge/Werte lediglich unbestimmt vorgegaukelt, diffus vermuten lassen. Ein strukturierter Tagesablauf, geerbtes - ja sogar erarbeitetes Vermögen, ein zunehmend überfordernder Hamsterrad-Job (Pohlschröder) können ja wohl kein Lebensziel sein.

Ein AUS-füllendes Leben schon, ein ER-füllendes Lebens kaum!

Auch dieses Thema wird geschildert - aber nicht reflektiert! Da sich der Erzählstil des Autors ansonsten sparsam zeigt, auf alles Nicht-Notwendige verzichtet, erscheint diese Ansprache geradezu ausgiebig, ja üppig. Dennoch wird auch hier nicht über das Thema, das "Problem" wirklich reflektiert; es wird - etwas intensiver als sonst - eben "angesprochen2. Und damit dem Leser dessen Relevanz angeboten und ihm nahegelegt, darüber selbst zu reflektieren.

Dies ist übrigens offenbar ein ganz besonders auffälliger und meinem Geschmack nach großartiger Wesenszug der kurzen knackigen Romane von aus dem Siepen!

 

Irgendwann sehen Neise und die anderen tatsächlich Land unter dem Zeppelin. Steht also endlich doch noch die Landung bevor? Den meisten Reisenden scheint das Unbehagen zu bereiten. Nicht jeder will ankommen. Das lange Zusammensein hat zusammengeschweißt. (Auch wenn man nicht weiß, wie und welchen Wert dies hätte.) Nur Pohlschröder, der wohl unter dem Irrflug sehr leidet, wittert eine Chance, wieder echten ersehnten Boden unter die Füße zu bekommen und beobachtet "raubvogelhaft" das verheißungsvolle Land unter sich (um welches es sich auch immer handeln mag ...)! Während dem Herrn Neise noch kurz zuvor (beim Zusammenbruch von Draudt) Ziellosigkeit und Ungewissheit Unruhe bescherte, haben sich nunmehr seine Gefühle gewandelt. Ich würde aber eher sagen, dass er jetzt charakterlich heimgefunden hat: Auch er will nicht mehr ankommen. Seine Erwerbstätigkeit im Ministerium hatte ihn ja ohnehin nie befriedigt, wirklich interessiert. Er hat nie etwas aufgebaut. Er verliert keine menschlichen Beziehungen: er hat sie nicht!

So zieht er sich vollends in die kleine Kabine zurück. Was er zuvor als modern, zweckmäßig, jedoch spartanisch eingerichtet einschätzte, (obendrein etwas kühl weil ungeheizt), empfindet er nun als gemütliches, bequemes Zuhause. Er sperrt sich ein (nur nicht Erika einlassen) und lässt sich Rotwein und Bücher auf das "Zimmer" bringen. Es könnte ewig so weitergehen. Er fühlt sich sicher.

 

Während die Nobility, die "höhere Gesellschaft" die Etikette und auch zunehmend ihre zunächst zumindest verbal verlautbarten oder auch nur (noch im besten Falle) selbstillusorischen Werte vernachlässigt, verzichtet sie dennoch nicht darauf, aus dem Vollen zu schöpfen: zu fressen, zu saufen, zu huren. Achtung - Metaphernkette: So grob kann man auch das abgehobene Treiben, losgelöst von der Erde, in den Wolken, in ihrem Luftschloss, auch beschreiben! Dabei ist das auf Sand gebaute, ähm auf Luft driftende, extrem leicht gebaute und mit hochexplosivem Gas angefüllte Luftschiff "Berlin"(!) keineswegs sicher und robust!

Wie selbstverständlich verprasst die Oberschicht die wahrscheinlich doch begrenzten Ressourcen des zarten Luftschiffes. Wie selbstverständlich beutet es weiterhin, ja sogar intensivierter, in selbstherrlicher, herrischer Weise die zunehmend angespannte Mannschaft, die Werktätigen aus. Über deren Ansichten erfahren wir übrigens nichts - außer die Einstellung von Diehl. - Dabei weiß z.B. Neise aus eigener Anschauung während eines "Spaziergangs" auf Mannschaftsdeck durchaus sehr genau, unter welchen Bedingungen Kellner, Musikanten, Stewards, Maschinisten & Co. leben. Dass dies vielleicht nicht ewig so weitergehen wird.

 

So habe ich es gelesen: Eine Parabel auf Lebensart und Lebensziele des einzelnen Menschen.

Über lange Strecken sympathisierte ich mehr mit dem faustischen Charakter eines Pohlschröder. Dennoch erscheinen mir mit wenigen Tagen Lektüre-Abstand die Darstellungen der Lebensansichten von Diehl oder Draudt zunehmend nachsichtig, verständniswürdig. Ja sogar den Änderungen des Neise "bewerte" ich inzwischen nicht mehr streng negativ. Ohne den bisherigen Berliner Lebensalltag verlor er sein Gerüst, seinen Halt. Ja sicher. Aber er erlebt dadurch ja auch eine Befreiung vom vorherigen, von einem unpersönlichen Außen diktierten, fremdbestimmten Dasein. Nun fand er ein neues, traumhaftes Berliner leben.

Aber ist es wirklich wahrhaftiger?! Zu wessen Lasten, auf wessen Kosten geht das? Und ist es wirklich nachhaltig und fair anderen gegenüber?

 

Denn es geht hier auch um eine völlig abgehobene Gesellschaftsschicht - voll der Etikette, aber bar wirklich verinnerlichter Werte und Ziele. Die sich ziellos vom Großteil der dienenden, schuftenden Bevölkerung durch das Leben kutschieren lässt und dabei gedanken- und sinnlos Ressourcen verschwendet. Und nicht erkennt, dass es in einem zart-zerbrechlichen, hochentzündlichem Gefährt lustwandelt. "Luftschiff" - so der Titel des Buchs - ohne vorangestelltem Artikel wirkt dies wie ein Urteil, wie "Luftschloss!"

Tja: eben eine der Realität entrückte, dekadente Oberschicht im Luftschloss Berlin ...!

 

Na, wir wissen, wie die Ära dieser Zeppeline endete: in mehreren gigantischen Explosionen in den Dreißigern! (Ausgerechnet die Dreißiger Jahre ...!) Wie toll sie auch aussahen: Luftschiffe (zumindest jener Art) erwiesen sich als Irrweg!

 

Irrwege - das ist ein Thema des Autors. Auch in seinem späteren, deutlich bekannteren Roman "Das Seil" ...