Kir Bulytschow: Überlebende - Der Gebirgspass. (1980) & Überm Berg. (1984)
"Der Gebirgspass" gehört neben den Romanzyklen zu "Alisa" und zur seltsamen Stadt "Velikij Gusljar" wohl zu den bekanntesten Werken von Bulytschow. Irgendwann in den Achtzigern las ich die Erzählung. Auch die Verfilmung als Trickfilm (1988) sah ich. Bis vor kurzem war mir eine Fortsetzung dazu unbekannt, die Mitte der neunziger Jahre sogar in deutscher Sprache im Heyne-Verlag erschien. Zusammen mit dem "Gebirgspass" in einem Buch. Jetzt endlich habe ich beide gelesen.
Im "Gebirgspass" geht es um den Erhalt von Kultur, Zivilisation und Menschentum in einer feindlichen Umgebung. Aktiver Widerstand gegen Verrohung und Anpassung nach Unten, an den umgebenden Dschungel und damit auch Aufgabe bisheriger Lebensweise, Werte und Ziele. Behauptung zivilisatorischer Errungenschaften, Bewahrung und Bewusstsein der eigenen Herkunft. So las ich es nun. Ein gutes Jugendbuch.
Vor 17 Jahren stürzte das irdische Raumschiff "Pol" über einem namenlosen, eher unwirtlichen, urzeitlichen Planeten ab. Es ging in einem Hochgebirgstal nieder, in ewigen Schnee, bei bitterer Kälte um die Minus 40 Grad. Die Überlebenden der Katastrophe - Forscher, Siedler, ganze Familien - sind zum schnellstmöglichen Verlassen des Wracks gezwungen: Massive radioaktive Strahlung tritt aus, ein Überleben im eiskalten Raumschiff-Wrack ist unmöglich. In einem verlustreichen Zug schlagen sie sich zu einem tiefer gelegenen bewaldeten Tal durch. Dort, nochmals dezimiert, richten sie sich eine armselige dörfliche Siedlung ein und können sich gegen die fremde, äußerst feindselige Natur behaupten. Es kommen sogar Kinder zur Welt. Die haben es leichter als die "alten" Raumfahrer. Denn sie kennen nichts anderes, es ist ihre Heimat. Sie kommen zurecht, sind besser angepasst. Immer wieder werden sie ausdrücklich mit "Mowgli" aus dem Dschungelbuch verglichen.
Die Älteren bewahren die Erinnerung an die Erde, bedauern ihr Schicksal, finden sich nicht damit ab und leiden unter den elenden, entwürdigenden Verhältnissen und dem ständigen zermürbende Kampf gegen aggressive Tiere, Pflanzen und diversen Gifte. Mit großer Beunruhigung sehen sie an den Jugendlichen und Kindern, dass diese sich auch in ihrem Denken und Verhalten von der Erde entfernen, sich mit dieser wilden Welt arrangieren, sich ihr (einigermaßen) erfolgreich anpassen. Es ist eine Frage der Zeit, bis sämtliche technischen und ideellen Errungenschaften verloren gehen, dass sich die Kultur und Gesellschaft verändern werden. Sie befürchten Verwilderung. Überleben und führen würden künftig die starken Jäger. Die Erde wird zum Mythos, ein Wiederaufleben archaischer Kulte ist absehbar. So bemühen sie sich auch um eine intensive kulturelle und technische Ausbildung der Kinder.
Zwei Entwicklungsszenarien zeichnen sich in den zwei etwa gleichaltrigen jungen Männern Dick und Oleg ab. Vielleicht erhielten sie vom Autor nicht ohne Grund einen amerikanischen und einen russischen Namen …? Dick verkörpert die Anpassung an diese Welt, der perfekte, entschlossene Jäger und selbstsichere, fast schon gebietende Anführer: ein werdender Krieger. Ein erster Schritt in Richtung intelligentes Raubtier. Zweifellos bestens geeignet für das Überleben. Auf Oleg hingegen ruhen die Hoffnungen der inzwischen geschwächten und teilweise invaliden Alten: Er ist besonnener, nachdenklicher, klüger, technisch interessierter - aber auch deutlich körperlich schwächer und zurückhaltender.
Ein kleiner Trupp, bestehend aus den beiden etwa achtzehnjährigen Jungen, dem jüngeren (kräuterkundigen) Mädchen Marianne und dem älteren Thomas, werden nun erstmals zurück zum Raumschiff geschickt, ehe dieses und der Weg dorthin, ja die ganze alte Welt in Vergessenheit gerät. Das sommerliche Wetter scheint günstig: Es liegt sowenig Schnee wie lange nicht. Die Radioaktivität sollte mittlerweile abgeklungen sein. Die 4 Teilnehmer sollen einige wichtige nützliche Dinge vom Schiff zurück ins Dorf bringen um das Leben zu erleichtern aber auch, daraufhin zu arbeiten, irgendwann und irgendwie die Erde auf sich aufmerksam zu machen.
Der strapazenreiche Weg führt über einen schwierigen Hochgebirgspass.
Im wesentlichen wird der abenteuerliche Verlauf dieser Expedition geschildert: die Auseinandersetzungen mit der Natur, aber auch zwischen Oleg und Dick. Zwischen beiden besteht durchaus keine Gegnerschaft. Beider Verhalten, beider Einstellungen und Ansichten haben viel für sich. Doch deutet sich bereits eine Kluft an, der später zu einem Bruch, zu Feindschaft führen könnte. Dick macht lange Zeit den stärkeren, zuverlässigeren Eindruck einer Führungspersönlichkeit, des fähigeren Beschützers. Doch diese sichere Führerschaft gerät mit Entfernung vom gewohnten Wald zunehmend ins Wanken. Mit neuen, ungewohnten Herausforderungen kommt hingegen der gebildetere, feinsinnigere Oleg besser klar. Er ist geistig beweglicher. Er ist der wissenschaftliche Forschertyp, Dick der Trapper und Waldläufer.
Nebenbei wird eine "Coming of Age-Story" erzählt. Die drei werden erwachsen und eine - noch unbewusste - Liebe zwischen Oleg und Marianne deutet sich an. Bei Dick scheint - im Kontrast dazu - aufkommendes Begehren zu überwiegen ...
Thomas wird den Treck nicht überleben: Er opfert sich während einer kurzzeitigen, heftigen viralen Infektion von Oleg auf und stirbt dabei. Die Jugendlichen aber schließlich erreichen das Schiff und kehren mit "Beute" heim. Der Zivilisation und der Hoffnung auf Rettung scheint eine weitere aufschiebende Frist gewährt.
Damit endet diese Erzählung. Und es wäre gut gewesen. Kein wirkliches Happy End. Doch der Abschluss der "Povest" stimmt eher zuversichtlich, auch wenn der glückliche Ausgang nicht wirklich gesichert erscheint. So bleibt beim Leser eine gewisse Unruhe. Immerhin: Der Pass, die Hürde, die grundsätzliche Entscheidung, die Rückbesinnung "zurück zur Zukunft" scheint genommen.
Die Geschehnisse in "Überm Berg" spielen sich gut zwei Jahre später ab. Das lokal-planetare Jahr ist etwa dreimal so lang wie ein irdisches. So möchte man bereits im folgenden Sommer (also 2 Jahre später) erneut zum Wrack aufbrechen. Diesmal mit dem konkreten Plan, möglichst den Funksender wieder in Betrieb zu nehmen und einen Notruf an Erde bzw. Raumflotte abzusetzen. Dafür wird Oleg intensiv ausgebildet. Das Unternehmen verspricht besser zu laufen als die vorige Expedition: Der Sommer ist warm, der Weg nun bekannt, man wird die Teilnehmer besser ausrüsten, man hat ein konkretes Ziel.
Viel Raum nimmt die Schilderung eines neuen Projekts von Oleg ein: einen Heißluftballon zu bauen, um sich den Weg zum Pass (aber auch künftig anderswohin) zu vereinfachen. Tatsächlich kann er die anfangs belächelte Rückkehr zur Luftfahrt erfolgreich durchsetzen. Er ist so auffällig stolz, dass sich sein Mentor etwas Sorgen macht und sie beide über die Psychologie von Eroberern wie Napoleon oder Alexander dem Großen reflektieren: Ist auch Oleg womöglich angefixt von den Versuchungen der Macht über Menschen und "Material" …? Schon bei den ersten Aufstiegen über die ewigen grauen Wolkenmassen des niedrigen Himmels(! Achtung Metapher!) hinaus entdecken sie den Kondensstreifen eines Flugkörpers am hohen, freien Himmel: Sie sind nicht allein! Eine fieberhafte Tätigkeit beginnt, mit den anderen Menschen schnellstmöglich in Kontakt zu treten, ehe sie womöglich wieder ins All verschwinden.
Parallel dazu bzw. abwechselnd mit den Schilderungen der Dörfler, wird nun eine weitere Story erzählt: Ein kleiner Forschungstrupp, zwei Frauen und ein Mann: Claudia Sun, Sally und Wladislaw Pawlysch, landet auf dem Planeten, um erste Forschungen anzustellen. Eine geologisch-biologische Mission, die nur wenige Monate dauern soll. Eine kleine Station wird errichtet, hermetisch abgeriegelt gegen die Umwelt. Nach draußen geht man nur im Skaphander. Die Beschreibung des komplizierten, konfliktbeladenden Miteinanders dieses Teams hebt diesen zweiten Roman-Teils nun über das Jugendbuch-Niveau des ersten Teils hinaus. Nach anfänglicher, eher geradliniger Beschreibung gewinnt die Erzählung - für mich unerwartet - an Tempo, und vor allem (glücklicherweise) doch noch auch an psychologischer Tiefe. Beweggründe für das Verhalten der einzelnen Protagonisten werden erörtert und bewertet. Die "Figuren" geraten authentischer, menschlicher und differenzierter. Dennoch wird z.B. nicht geklärt, welche wirkliche Ursache die Härte und Strenge Claudias hat, was sie in Konflikt zum zunächst nicht sehr ehrgeizig und führungswillig, ja nachlässig erscheinenden "Eindringling" und "Störfaktor" Wladislaw bringt. Die scheinbar humorlose, kontrollsüchtige Claudia, bemüht sich geradezu verzweifelt, ihre gewohnte, nun aber vermeintlich gefährdete Autorität gegenüber Wladislaw zu verteidigen. Tiefe Minderwertigkeitskomplexe und Furcht prägen sie, tatsächlich lässt sie sich schnell einschüchtern und überspielt dies mit einem um so kälteren Befehlston. Zumal sie Wladislaw mit seiner Ironie nicht wirklich ernst zu nehmen scheint. Dass sie eigentlich in Wladislaw verliebt ist, gesteht sie sich nicht ein, verbietet es sich geradezu. Da ist es in ihrer Einsamkeit nicht hilfreich, wenn sie fast in Panik nun auch noch beobachten muss, wie sich dagegen Sally und Wladislaw mit großer Schnelligkeit näher kommen.
Gern hätte ich mehr darüber erfahren. Aber Bulytschow "verzettelt" hier sich nicht ... um es einmal seufzend ins Positive zu rücken. Und kehrt stracks mit beschleunigten Tempo zur Action zurück.
Immerhin empfand ich die vergleichsweise anspruchsvollere Schilderung der Binnenbeziehungen der Dreiergruppe als wohltuende Initialzündung für eine etwas tiefere Betrachtung und Beschreibung auch der Charaktere der jungen Haupthelden aus dem Dorfe - neben Oleg, Dick und Marianne nun auch der halbwüchsige, leidenschaftliche Kasik und die attraktive aber konservativ-hausfrauenhaft-passive Lis (die ebenfalls in Oleg verliebt ist.)
Oleg und Marianne erklären sich ihre Liebe.
Zwei Expeditionen nehmen die hoffnungsvollen Dörfler in Angriff: Dick, Marianne und Kasik werden mit dem neuen Ballon zum entfernten Stützpunkt der Kosmonauten entsandt. Buchstäblich ein ungewisses Himmelfahrtskommando, das auch tatsächlich beinahe und sehr dramatisch scheitert: Absturz, schwere Verletzungen, Hunger, Missverständnisse bei den Raumfahrern und viel sonstiges Pech bzw. "Irgendwie-Nicht-Aufeinander-Treffen".
Oleg hingegen soll mit dem älteren Sergejev erneut zum Schiffswrack aufbrechen, um von dort aus entweder den Funk-Notruf zur Erde oder eben zur Forschungsbasis auf dem Planeten abzusetzen. Auch diese Mission ist vom Pech verfolgt: Beide kommen vom bekannt geglaubten Weg zum Pass ab und irren hungernd, halb erfroren und zuletzt schneeblind über die Hochebenen.
Die irdischen Neuankömmlinge hingegen entdecken das Schiffswrack in den Bergen, das sie zunächst für eine seltsame Metall-Anomalie gehalten hatten. Claudia befiehlt entsprechend der Vorschriften, das Schiff vollständig zu vernichten: Es hat nichts auf diesem jungfräulich bleiben sollenden Planeten verloren, gefährdet mittelfristig eher die heimische Flora und Fauna. Claudia fällt die Entscheidung überstürzt: 18-20 Jahre nach der Havarie ist keine akute Eile geboten. Aber ihre Gefühle sind in Aufruhr; sie fürchtet um den Rest ihrer Anerkennung als Kommandantin. Nun erweist sich der scheinbar trottelige, nachgiebige Wladislaw als wirklich standhafte, feste, rational entscheidende Persönlichkeit, indem er den Befehl verweigert: aus ethischen Gründen, wegen seines Gewissens gegenüber den Opfern der Schiffskatastrophe. Denn das Raumschiff ist auch ein Grab, ein Denkmal. Zudem schlussfolgert der doch scharf beobachtende Arzt aus Indizien, dass es Überlebende gegeben haben könnte, deren Verbleib zunächst geklärt werden muss, ehe alle Spuren übereilt vernichtet werden. Erstaunlich kritisch und offen schildert Bulytschow die sicheren Folgen dieser Befehlsverweigerung: Degradierung und quasi Berufsverbot / Entfernung aus der Raumfahrt. Damit entspricht Bulytschow in einer Zeit noch VOR Gorbatschow nicht gerade den Standards sowjetischer Phantastik-Literatur: Befehlsverweigerung wegen irrationaler Fehlentscheidungen (sowjetisch-kommunistischer) Vorgesetzter?! Da klingt vorsichtige Gesellschaftskritik an - am Vorabend der kommenden Perestroika-Jahre.
Insofern war die Lektüre doch noch von Interesse für mich. Als Jugendlicher hätte ich sicher nur das abenteuerliche Rettungs-Drama wahrgenommen. Daraus wurde jetzt mehr.
Ach so - Spoiler: Die Situationen der drei Teams verschlechtern sich allmählich und wirken ausweglos. Dennoch geht der - durch andere Texte abgestumpft-trainierte - Leser von der üblichen Rettung aus. Aber auf den letzten Seiten dachte auch ich, dass nun tatsächlich alles im Eimer sei und - wie bei Shakespeare - doch irgendwie alle tragisch draufgehen. Es sieht ganz plötzlich nach einem sehr bitteren und düsteren Ende aus - zumal nur ganz wenige Seiten vor dem Schluss. Und man vermag sich kaum eine Wendung auf nur noch 3 Seiten Papier vorzustellen.
Alle sie bleiben am Leben. Dick hilft aktiv, tatsächlich ist er in der Praxis der entscheidende Retter!
Ich könnte darüber spekulieren, was danach passiert: Werden sich wirklich alle Dörfler vom Planeten "wegretten" lassen? Insbesondere die jungen? Was werden sie zurück auf der Erde bzw. "heimgekehrt"(?) in die große menschliche Familie tun? Werden sie sich einfinden in diesen anderen "Dschungel"? Oder wieder von dort fliehen?
Allerdings erscheint mir der Sound Bulytschows (v.a. Dick zweifelt zeitweise stark am guten Willen der Menschen, fühlt sich von ihnen als Wilder abgestoßen und verächtlich bekämpft) letztlich doch positiv.
Spekulieren lässt sich auch in eine GANZ andere Richtung: Am Vorabend der Perestroika … Wie metaphorisch meint der Autor den Überlebenskampf von Kultur und Zivilisation in einer feindlich-unmenschlichen Umgebung? Zum Beispiel in einer inhumanen Gesellschaft wie dem Faschismus, dem Stalin-Kommunismus, während einer Putin-Junta? … (Ich habe da halt so meine Assoziationen - sehr aktuell bedingt knapp drei Wochen nach dem Beginn der imperialistischen Invasion von Putin-Russland in die Ukraine …)
Wird die menschliche Mutter-Zivilisation die "verwildernden" Russländer wieder aufnehmen?