Herbert Rosendorfer: Großes Solo für Anton. (1976)

Herbert Rosendorfer schrieb eine Reihe bissig-humorvoller Erzählungen, die dem phantastischen Genre zugerechnet werden. Geboren und gestorben in Südtirol, arbeitete der Jurist jahrzehntelang als Richter in Bayern, aber auch in Sachsen-Anhalt. Er wurde mit vielen Auszeichnungen beehrt, darunter mit dem Lasswitz-Preis aber auch mit dem Preis des bayerischen Ministerpräsidenten CORINE.

"Man kann einen Ist-Zustand gut beschreiben, indem man ihn in einen phantastischen Ablauf einbettet. In so etwas war R. Meister." - so erklärte es ein Leser auf amazon.de in einem Kommentar.

 

 

Wieder habe ich eine Endzeit-Story erwischt!

Ein gewisser Anton, sehr mittelmäßiger Angestellter in einem Münchener Finanzamt, erwacht Anfang Juni in seinem armseligen Untermietzimmer ... und ist allein auf der Welt. Alle Menschen haben sich entmaterialisiert. Keine Erklärung dazu, welches Ereignis die Menschen verschwinden ließ. Pflanzen und Tiere sind übrigens noch da. Dies ist ein Unterschied zum zuvor gelesenen "Die Arbeit der Nacht" von Glavinic, wo sich neben dem Menschen auch alles tierische Leben aus der Welt entfernt hatte.

 

Geschildert wird, wie sich der anfangs erschreckte Anton doch und sehr schnell in sein "einsames" Schicksal fügt. Zunächst erfasst ihn Panik: Er könnte einfach nur verschlafen, etwas verpasst haben, was sich für ihn seitens seiner Vorgesetzten negativ auf den Job auswirken könnte; aber auch sonst lästige Scherereien bedeuten würde.

Doch er erkennt bald die tatsächlichen Umstände und findet zunehmend Gefallen an diesen Zustand. Wird er doch von keinem mehr genervt oder schikaniert oder wegen seiner nicht gerade allgemein konformen Ansichten, des Verhaltens und Benehmens schief angesehen. Er darf sich nun vollends gehen lassen und - weil mit einem charakterlichen Hang nach Höherem (oder Tieferen) geschlagen - seine Situation nicht als letzten, einsamen Menschen ertragen, sondern sich im Gegenteil als Weltmeister aller Sportarten und Klassen, als schönsten und klügsten Mann, schließlich quasi als Papst (da einziger Katholik auf Erden) betrachten. Und in letzter Konsequenz schließlich als GOTT ...

 

Also: endlich "Bühne frei!" für das Große Solo von Anton, einer im normalen Leben bislang glücklosen und unglücklichen Niete. Meist unauffällig, und wenn bemerkt, dann eher unangenehm:

 

Denn Anton ist ein schrulliger Typ, in "bürgerlicher" Standart-Einschätzung ganz sicher ein Versager. Ein Typ Mitte Vierzig. Er durchlief glücklos viele Episoden und Stationen: abgebrochenes Studium, abgebrochene Fahrschule, abgebrochene, eher unglückliche Phasen als stets kleiner Angestellter in einem Verlag, in Reisebüros und schließlich im Finanzamt - wo er nicht mal beamtet ist. Meist - gerade so - einen Dienst nach Vorschrift versehend, ohne Elan oder Initiative. Die Jobs musste er meist wechseln, weil er mit seinen Kollegen oder Vorgesetzten aneinander geriet. Viel häufiger jedoch aufgrund seines eigenwilligen Verhältnisses zur Hygiene: Nicht nur die Unterhosen wechselt er höchstens einmal monatlich. Farbveränderungen, Duft und physische Verfassung der Wäsche werden genussvoll beschrieben. Auch die tägliche Körperwäsche muss nicht sein. Der Zustand unserer Zivilisation: manifestiert am Beispiel des Umgangs mit der Unterwäsche ... Allerdings wird Anton seltsamerweise von gelegentlichen Reinigungs-Flashs erfasst: Dann kann er stundenlang in der Badewanne hocken.

Er ist rechthaberisch, schaut arrogant/verächtlich auf seine ihm - seiner Ansicht nach - nicht gewachsenen Mitmenschen herab. Eine Familie hat er nicht, kinderlos. Eine einzige längere Beziehung wird geschildert - mit einer eher sexsüchtigen energischen Dame. Ansonsten gab es eine Zeit, in der er hemmungslos durch europäische Bordells tourte. Seine Tätigkeit bei einem Reisebüro war ihm dabei wegen gewährter Reise- und Hotelvergünstigungen recht hilfreich. Auch zwischenmenschliche Beziehungen sind ihm unwichtige Episoden.

Nichteinmal ein wirklich eigenes Zuhause hat er: erlebt anspruchslos zur Untermiete in einem kargen Zimmer - in einem schäbigen Haushalt.

Vorweggreifend: Er wirkt unappetitlich und unerträglich unsympathisch. Nach der Lektüre fühlte ich mich jedoch an einen waschechten Diogenes unserer Tage erinnert …!

 

Nicht nur er selbst wird als schrulliger, unangenehmer Typ beschrieben. Auch alle seine Bekanntschaften, die Menschen um ihn herum sind wirklich keine Sympathieträger. Nach Lektüre ihrer jeweils ausgiebigen Charakterisierung könnte man zum Misanthropen werden!

 

Während in Glavinic's viel späterem einsamkeits-verzweifelten, melancholischen Roman lange Zeit nichts passiert, ändert sich bei Rosendorfer das Bild der Welt beängstigend rasant. Sofort fällt die Elektroenergie-Versorgung aus. Kein Licht, nur noch kurze Zeit Wasser und Gas. Die Lebensmittel in den Märkten vergammeln in der Hitze. Extrem schnell fallen die Hunde in ihren raubtierartigen Urzustand zurück, verwildern zu Bestien, schließen sich schon nach wenigen Tagen zu gefährlichen Rudeln zusammen. Eine von Antons Hauptaufgaben wird es sein, sie zu hunderten zu erschießen und zudem zurückkehrende Wölfe fernzuhalten. Die Natur erobert sich ihr Terrain zurück: Krautwerk und Büsche sprießen rasch aus Kopfsteinpflaster-Ritzen, Dachrinnen usw. Staudämme in entfernten Bergen, Kraftwerke, Brücken bleiben ohne tägliche Pflege und verfallen rasch - mit entsprechenden Folgen. Schon die nächsten Sturmböen oder heftige Regenfälle entfesseln die Flüsse, unterspülen und zerstören Brücken, Uferbefestigungen und ufernahe Gebäudefundamente: Der Fluss arbeitet wieder und gräbt sich in die große Stadt. Schon im Sommer stürzen ganze Straßenzüge in sich zusammen. Im Winter wird es noch schlimmer: Durch offene Türen oder zerstörte Fensterscheiben dringen nicht nur Pilz-, Schimmel- und Moos-Sporen ein, sondern v.a. Nässe und Kälte. Der stete Wechsel von Gefrieren und Tauen in den Spalten und Rissen führt zu "Frostsprengungen". Selbst große Gebäude brechen bald auseinander.

Eines davon ist Antons neues Zuhause: ein Luxushotel. Dies entsprach am besten seiner Lebensart, nirgendwo auf Dauer zu sein. So quartierte er sich in einer Luxus-Suite des Hotels ein: gut gefüllte und bedienbare Küche im Souterrain, genügend Platz und v.a. auch ausreichend Brennmaterial für Küche und Heizung - nämlich das hölzerne Mobiliar und Parkettböden anderer Zimmer.

Eines Tages fliegt ein großes Kraftwerk am Stadtrand in die Luft. Die Zerstörungen sind gigantisch, zumal anschließende Feuer ganze Stadtteile verwüsten. Erst ein Herbstregen löscht die Brände.

 

An der Rückkehr der Natur ist Anton nicht ganz unbeteiligt: Er plündert sämtliche Läden und Wohnungen auf der Suche nach Nahrung und Brennmaterial und zerstört dabei unzählige Türen und Fensterscheiben - und eröffnet damit Wetter, Tieren und Pflanzen weitere Angriffspunkte. Andererseits lässt er Tiere frei: Freigelassene Kaninchen und Hasen vermehren sich prächtig. Die fleißige Dezimierung von Raubtieren hilft diesem Getier ...

 

Hat sich Anton schon zu "normalen Zeiten" einer Anpassung an den spießbürgerlich-kapitalistischen Lifestyle verweigert, so nimmt er erst recht jetzt teil an der Rückkehr der Wildnis - auch was ihn selbst betrifft: Waschen, Kleiderwechsel, Haare und Bartschneiden entfallen jetzt nahezu gänzlich. Auch seine Ernährung wird sich ändern: Zunächst sind es noch frische, aber schnell verderbliche Lebensmittel aus Supermärkten, dann länger haltbare Dosen und sonstige Konserven. Auch Pralinen, Wein und Champagner halten sich und so gehören sie zu seinem alltäglichen Verzehr. Später lernt er gezwungenermaßen Tiere zu jagen und für den Verzehr zuzubereiten. Am Schluss wird er sie roh essen können ...

"Die Seele gibt einen erwachsenen Bezirk nach dem anderen auf, verwandelt sich zurück, verteidigt zum Schluss nur noch den Kern des Wesens, der schon da war, als man noch Kind war."

Die Renaturalisierung betrifft also nicht nur die äußere Welt, auch ihn selbst, schließlich auch seinen seelischen Kern.

 

Er beginnt, mit Gegenständen (Denkmal des Kurfürsten) oder Tieren (Hasen) zu diskutieren. Er ist sich halbwegs des unrealen Charakters dieser Gespräche bewusst: denn es sind Selbstgespräche. Tatsächlich sogar die bald letzten Anker rationalen Denkens, nüchtern analysierender Selbstreflexion. Denn mangels anderer Gesprächspartner gelingt es ihm auch dadurch vorerst, eigenes Handeln noch kritisch zu beleuchten und es nötigenfalls zu korrigieren.

 

Da das bewohnte Hotel einstürzt, ist Anton gezwungen, in die kurfürstliche Residenz umzuziehen: inmitten der Verwilderung der bemerkenswert stabilste Fixpunkt nicht nur bauwerklicher Architektur sondern wohl auch von Kultur und Zivilisation. Da er natürlich nicht ein riesiges Schloss zu unterhalten vermag, bezieht er einen beheizbaren Pavillon im Park. Dort überlebt er auch den Winter.

 

Ein geschätztes Drittel des Romans widmet sich Antons früherem enttäuschenden Leben mit dessen Bekanntschaften. Dies wird mit beißender, galliger Ironie geschildert: alle Spielarten vom liebenswürdig-nachsichtigen Humor bis zum bitteren Sarkasmus. Anton war kein aktiver, funktionierender Bestandteil jener Welt, die ihn daher ablehnte. Er weint ihr deshalb kaum eine Träne nach. Deshalb auch verspürt er kein Bedürfnis, nach der "Katastrophe" andere Überlebende ausfindig zu machen, die fernere Umgebung zu erkunden, den früheren Zustand wiederherzustellen. Sich sein früheres Leben zurückzuwünschen. Warum?! Er bleibt passiv und bequemlich.

 

Vom Umfang her ein weiteres Drittel beschreibt sehr eindrücklich und m.E. in deutlich ernsterem Tonfall die Verwilderung, die sehr schnelle Tilgung menschlicher Zivilisation durch die Natur.

 

Das verbleibende Drittel widmet sich in meiner Wahrnehmung metaphysischen Fragen - in geradezu mystischer Manier. Allerdings nicht ohne hintergründige Ironie. Zuvor durch obige Inhalte eingelullt, geht es hier überraschenderweise ums Ganze! Anton scheint auf ein großes Geheimnis zu stoßen, was möglicherweise mit dem Ende der Menschheit, ja schließlich auch der Welt zu tun haben könnte. Er findet Spuren einer Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, weltweit sämtliche (historischen) Geheimbibliotheken und "geheimen Bücher" ausfindig zu machen und diese zu katalogisieren. Dabei stößt die Gruppe auch auf das verloren geglaubte mittelalterliche Assassinen-Buch "Summe der Summen". Anton kann die eigentlich dem Adressaten zugedachten Bild-Kopien finden und sich in die Lektüre vertiefen. Denn dass gerade ihm in einer solchen Situation diese Entdeckung zuteil wird, kann kein Zufall sondern - ob seiner Unwahrscheinlichkeit - nur Bestimmung sein! Das Schicksal der Welt scheint in seine Hände gelegt. Das Buch erklärt die Welt. Anton glaubt nun alles zu begreifen und mit zunehmender Erkenntnis die Welt zu beherrschen, steuern zu können. So befiehlt er in einer Szene der Sonne eine Weile vor ihrem Untergang zu verharren. Denn die Schrift des scheinbar leeren(!) Buches ist nur bei Sonne, nicht aber bei künstlichem oder anderen Licht lesbar. Das geheimnisvolle Werk endet mit der Aussage: "Du bist Gott"!

 

Hier schließt sich der gedankliche Zirkel (siehe oben): Als letzter (auch konkurrenzloser) Mensch ohne weiteren Bezugs-Maßstab erkennt sich Solo-Anton als GOTT. Die Welt hängt von seinem Bewusstsein ab! Er ist ihr einziger "bewusster" Spiegel, ihre einzige Reflexion. Somit liegt es an ihn, sie zu stürzen oder neu zu erschaffen.

"Jedes Lebewesen tendiert, nein: drängt dazu, um sich herum ihm entsprechende Lebewesen zu schaffen oder vorhandene Strukturen entsprechend dem eigenen Bild umzustempeln. Die Matrize ist das Geheimnis des Lebens. […] Ich habe deshalb berechtigten Anlass zur Vermutung, dass die Welt, unsere Welt, die Erde und ihre Schöpfungseinheit auch den Hang und Drang zur Matrize hat. Das Ergebnis war es – das Buch."

Dies folgt dem der Erzählung vorangestellten nachdenkenswerten Motto: "Der Endzweck der Welt ist ein Buch (Stephane Mallarmé)"

 

Anton versucht eine Rematerialisierung der Menschen! Es kommen jedoch nur ungeheuerliche Chimären zustande, die er sogleich wieder vernichtet. Offenbar gelingt ihm nichts Schöpferisches. Sogar als erschaffender GOTT versagt er.

Wie sieht es dann aus als "großer Demiurg"? Hier ist Anton immerhin erfolgreich: "'Kann Gott sich selber auflösen?' fragte Anton L. - 'Das glaube ich nicht', sagte der Hase. - 'Ich glaube es eigentlich auch nicht', sagte Anton L. 'Gott kann nicht sagen: ich löse mich auf. Was passiert, wenn Gott sagt: ... ich - löse - mich - auf ...'" Sprach's wie einen Zauberspruch und Anton ward nicht mehr! (Er hatte schon zuvor - bedürfnislos - kaum noch gegessen und getrunken ...)

Einige lakonische, ernüchternde Sätze über eine unbeteiligte, offenbar also dennoch fortbestehende Welt - nun auch ohne Anton - beschließen das Buch. 

 

 

Das so amüsant beginnende Buch nimmt einige überraschende Wendungen und endet mit tiefsinnig-weltanschaulichen Erörterungen. Je nach Fasson sieht der Leser "das Ende" mit diogenischer, humorvoller Gelassenheit oder mit melancholisch-fatalistischem Seufzen.