Sam Savage: Firmin. Ein Rattenleben. (2006)
Der melancholische Roman, das Hauptwerk des amerikanischen Lebenskünstlers Sam Savage. Dessen Kurzbio liest sich aufregend und etwas abenteuerlich. Dieses Buch passt zu so einen Typen wie ihm. Andererseits: Wenn das auch die Erkenntnis seines Lebens, die (lebenskluge) Quintessenz seiner Erfahrungen sein sollte, wird mir etwas bange ums Herz.
Der Autor?
Sam Savage veröffentlichte diesen sein Erstlings-Werk erst im Alter von 66 Jahren. Er studierte Philosophie an einigen Universitäten - u.a. auch in Heidelberg, lehrte wohl auch einige Zeit das Fach. Dann war er in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aktiv, lebte mal in Frankreich, dann wieder hier und dort. Später tat er dies und das, hatte auch mal einen Fahrradladen, als Zimmermann, Krabbenfischer, Drucker ... Ein regelrechter Aussteiger!
Boston in den Sechzigern. Es geht um Firmin. Er wird als 13., also eigentlich überzähliges Kind einer alkoholkranken, "swinger-freundlichen" Rattenmutter im schäbigen Viertel Scollay Square geboren. Ihr Nest befindet sich im Lager einer Buchhandlung. Als schwächstes ihrer Kinder. Eigentlich ist keine Zitze mehr für ihn frei. Also bleibt er schwächlich. Aber die Not macht ihn klug. Die Mutter säuft, und die anderen Geschwister, die vor ihm an die Milch drängen bekommen natürlich die volle Dosis Alkohol ab und schlafen ein. Schlussendlich hat also der geduldige Firmin freien Zugang und gesündere Milch. Das hilft ihn überleben. Bis dahin muss er allerdings die Zeit überbrücken und kaut auf Papier herum - seine erste, geradezu buchstäblich existenzielle, sinnliche Begegnung mit Literatur. Selbst dieser Textbrei, nicht gerade intellektuell konsumiert, bietet unterschiedliche Geschmacksrichtungen und ermöglicht sein Überleben. Er frisst Literatur zunächst wahllos in sich hinein. Später erst entwickelt er Vorlieben und lernt zu lesen, zu verstehen. Das ist mehr, als nur den Hunger zu überbrücken: Sie hilft ihn, sein Elend zu vergessen und sich in schönere, spannendere Welten zu flüchten. Die Welt der Menschen verspricht Abenteuer und Liebe, Krieg und Frieden.
Während später alle Geschwister den Geburtsort, den Buchladen in die harte Außenwelt verlassen, bleibt Firmin im Haus. Er fürchtet die Welt draußen, zumal er nicht hart genug ist.
So liest er sich durch die Weltliteratur, verliebt sich in die Menschen, lebt ihre Abenteuer mit, träumt davon, mit ihnen in Kontakt zu treten. Zumindest liebt er ihr Abbild in Büchern und Filmen. Denn zweite Info-Quelle ist ein benachbartes Kino, dass nach Mitternacht Pornostreifen zeigt: Firmin ist von Sehnsucht nach "seinen Schönen" erfüllt.
Da wäre zumindest der Besitzer des Geschäfts: Norman. Dumm nur, dass es physiologische Beschränkungen gibt: Er kann fiepen, aber nicht sprechen. Höchstens mit seinen kurzen Ärmchen einige Brocken Taubstummen-Gestensprache: "Auf Wiedersehen Reißverschluss" z.B. ...
Leider findet Firmin keine Gegenliebe: Norman sieht ihn einmal "appetitlich" als Spiegelbild in der Kaffeetasse und sucht ihn anschließend zu vergiften. Für ihn ist Firmin nur ein Ungeziefer, ein lästiges Tier. Nur knapp entgeht die Leseratte dem Tod.
Auch ein Kontaktversuch im Park endet beinahe in einer Katastrophe.
Firmin ist und bleibt ein Außenseiter: Zu den Ratten fühlt er sich nicht gehörig, zu den Menschen kann er nicht.
Immerhin wird er dort halbtot von einem anderen Außenseiter der menschlichen Gesellschaft aufgelesen: dem Überlebenskünstler und ziemlich erfolglosen Schriftsteller Jerry Magoon. Der hat mal einen kleinen Science-Fiction-Roman verfasst über Außerirdische, die auf die Erde übersiedeln wollen und Emissäre entsenden, um mit der herrschende Spezies der Erde entsprechende Bedingungen zu verhandeln. Hier gibt es ein Missverständnis: Als herrschende intelligente Rasse der Erde identifizieren sie die Ratten und geben ihren Leute ein entsprechendes Aussehen. Ein fataler Fehler ... Jerry produziert weitere literarische Ideen, bringt aber nichts mehr zustande. Das besondere Verhältnis zu Ratten bleibt.
Firmin wird von ihm gerettet, darf bei ihm ziemlich frei leben und begleitet ihn bei Verkaufsaktionen seines Buches.
Beide kommen miteinander aus und haben Spaß aneinander. Aber Jerry versteht Firmin nicht: Er sieht in ihm eine drollige kleine Ratte, die so tut, als würde sie lesen oder Klavier spielen.
Jerry stirbt schließlich an einem Infarkt. Und kurz nach ihm, der ganze ohnehin todgeweihte Stadtteil. Er wird ausgerechnet von einem Weltkriegs-Veteranen, der auch die Bombardements deutscher Städte wie Dresden oder Köln "designte" gemanaged. Wie passend!
Die Buchhandlung wird geschlossen, die letzten Bücher kostenlos abgegeben (plötzlich wilde Gier der Menschen, da es irgendetwas kostenlos gibt - selbstverständlich landen Unmengen wertvoller Bücher in den umliegenden Gassen, in Pfützen, in Gullys, an Maschendrahtzäunen).
Schließlich stirbt auch Firmin sein bescheidenes Leben: Er kam immer zu kurz, hatte keine herzenswarme Heimat, keine Freunde, blieb allgemein unverstanden, beobachtete das Leben anderer, sexuell komplett unerfüllt, musste sich sogar permanent feindlicher und verächtlicher Attacken erwehren. Die berührende, tragische, aber auch humorvolle Geschichte eines Außenseiters, der in Büchern sein Glück sucht bzw. "Sam Savage erzählt eine Geschichte über Außenseiter und Ausgeschlossene, über Erniedrigungen und Selbstzweifel, über Kunst als einen Weg, diese zu überwinden, aber über Größenwahn und eitle Prätention." [Denis Scheck], der sich dabei aber auch vielleicht um alternative Wege zum persönlichen Glück bringt und auch zum Snob, gelegentlich zur Überheblichkeit neigt. Auch mal zu Hybris: Das alles muss doch einen Sinn haben. Er überlebt alle seine Geschwister, auch die Ratten-Ausrottungs-Kampagnen der Menschen - und doch stirbt er tausende Tode in den Büchern. Sein Verstand wird schärfer als seine Zähne ... Ist er doch zu etwas Großem berufen?! Gibt es ein Muster?! Manchmal fühlt er sich schon als ein großer Romancier, als großartiger Tänzer Fred Astaire. Weise und demütig wird er am Schluss. Immerhin war es ein bewusstes ein eher selbst bestimmtes Leben als das seiner sämtlichen Geschwister und Verwandten. Und das ist in gewisser Weise versöhnlich. Was hätte seine Alternative ausgesehen? Und: Schließlich IST Firmin ja Romancier: Was man hier liest, ist sozusagen seine Autobiografie!
Auch wenn er tragischerweise nicht davon ausgehen kann, dass diese je ein Mensch würdigen wird ...
Ein Buch darüber, wie Literatur und Fantasie helfen kann, das eigentlich schreckliche Leben schöner zu machen. Deutlich wird dies am Originaltitel. Dort ist nicht von einem "Rattenleben" (im metaphorischen Sinn) die Rede, sondern erhellender von einem "Metropolitan Lowlife.
Überhaupt: "Entgeht einem das Leben, wenn man liest? Oder: Lebt man gerade intensiver durch das Lesen? Macht Literatur anders? Oder: Ist sowieso anders, wer gerne liest? Und: Kann Literatur helfen, das Leben zu bewältigen, weil Probleme und Schwierigkeiten, ja das Leben selbst, in einem neuen Licht erscheinen, wenn man liest?"
So ganz sympathisch warm werde ich nicht mit dieser Figur: zu viel Blues, zu wenig eigenes Leben! Und mit zunehmenden Alter schwant auch Firmin, dass all die Literatur nicht die große Kluft zur tristen, erbärmlichen Realität füllen, unsichtbar machen kann.
Nebenher werden dem Leser übrigens das abgerissene Bostoner Stadtteil Scollay Square und dessen Menschen vertraut gemacht. Keine detaillierte Geschichte, aber die Pinselstriche reichen aus, das eigentlich heruntergekommene Viertel lieb zu gewinnen.