Adam Wisniewski-Snerg: Nacktes Ziel. (1980)


Adam Wisniewski-Snerg gilt als wichtigster polnischer Science-Fiction-Autor neben Stanislaw Lem. Allerdings wurde er dies erst nach seinem Tod 1995: Vergessen, verkannt und unverstanden nahm sich der tief-depressive Schriftsteller das Leben.

"Nacktes Ziel" widmet sich erneut einem Sujet des Autors, dem er sich auch in den Romanen "Das Evangelium nach Lump" oder "Die Arche" zuwandte, das ihn offenbar sein Leben lang interessierte. Es geht um das bewusstlose, weitgehend fremdbestimmte Leben der Individuen in Kulissenwelten. Diese Welten gleichen Filmen nach festem Drehbuch, geführt von einem unbekannten, unverständlichen Regisseur. In dem die Menschen wie geistlose Schatten oder Marionetten unentrinnbare Rollen bzw. vorherbestimmte Funktionen erfüllen. Sinn und Zweck bleiben im Dunkeln. Nur wenigen gelingt der geistige Ausbruch aus dieser künstlichen, nach undurchschaubaren Plan gemachten Illusions-Welt. Diese Menschen gelten dem Rest der Welt selbstverständlich als Irre.
Nur wenige Protagonisten erkennen also den vorgetäuschten Charakter der vermeintlichen Wirklichkeit, während alle anderen Menschen vorherbestimmte Rollen in einem geheimen Welt-Drehbuch spielen. Dieses Motiv taucht übrigens auch in den bekannten Matrix-Filmen der Warchowski-Geschwister auf. Nicht unwahrscheinlich, dass Wisniewski-Snerg in deren polnisch-amerikanischen Familie bekannt war ...

Inhalt: Der polnische Ich-Erzähler Antoni Suchary sitzt neben dem Türken Ibrahim Nuzan in einem Flugzeug. Der erweist sich als vermeintlicher Flugzeugentführer, fordert jedoch nur, auf 12.000m Flughöhe zu steuern, wo er sich prompt erschießt. Das Projektil trifft auch Antoni.
Für unsere Welt sind die beiden nun tot, sie kommen aber in der fernen Zukunft wieder zu sich: Die Erde - eine gigantische, bis in 12.000 m Höhe alles bedeckende Mega-Stadt, in der viele Milliarden Menschen ein extrem langes Leben in Wohlstand und mit allen Genüssen führen. De facto unsterblich, ist aber jeder nach einem mehr oder weniger langem Leben ermüdet und seiner zuletzt langweiligen Existenz überdrüssig.
Abhilfe schafft eine gigantische Film-Maschinerie auf dem Dach dieser Welt: In unzähligen Studios laufen dort 3-D-Filme in unterschiedlichen Epochen und über unterschiedlichste Themen oder Themenvariationen. In diesen von der Realwelt nicht mehr unterscheidbaren Filmen können Menschen als Akteure mitspielen.

Das passiert auch den beiden Helden. Während Ibrahim in den abenteuerlichen Filmexistenzen seine - eskapistische - Erfüllung sieht, möchte Antoni diese Welt durchschauen und mit Erfüllung seiner Film-Funktion der Illusions-Welt eher entkommen.
Gelandet im Italien des Jahres 1957 spielen sie zwei Popmusiker, die ein Attentat der italienischen Terror-Organisation "Schwarze Federn" verhindern sollen: Eine italienische Großstadt soll nuklear ausgelöscht werden, wenn nicht 460 inhaftierte Gesinnungsgenossen freigelassen würden. Man weiß, dass sich zwei junge Frauen der Führungsebene, Fans der Popmusiker, auf Capri aufhalten. Aufgabe der beiden Helden ist es, diese aus der Menge der Touristen aufzustöbern, dann zu umgarnen und ihnen das Ziel des Anschlags zu entlocken.


Was übrigens nicht erklärt wird und was sich der intelligente Leser selbst fragen muss: Wie konnte Ibrahim in die "reale Jetzwelt um 1980" gelangen, dort einen Flugzeugpiloten erpressen und bei seinem Pseudo-Suizid (der ihn nachhause zurückbringen soll) einen Real-Menschen Antoni in die Zukunft mitnehmen? Wohl eben nur, wenn auch diese anfängliche, sogenannte "Realwelt 1980" in Wirklichkeit ein Film war und der gute Antoni zwar realer Mensch ist, aber eben aus der selben Zukunft stammt wie Ibrahim. Nur, dass er sich daran nicht "erinnert". Mögliche Ursache: Er steht unter dem Einfluss einer noch größeren äußeren oder inneren Suggestion ...

Zwischenzeitlich verliebt sich der Held in Lucia, wobei er nicht sicher sein kann, ob sie nicht auch zu den Attentätern gehört bzw. nur ein Schatten ist (wie fast alle anderen Menschen) oder doch ein echter, authentischer Mensch wie er selbst. Denn über die Zeit tauchen auch andere "echte" Menschen auf der Bühne auf. Eine Bühne, die ihrer ganz eigenen Physik folgt, welche der Autor sehr detailreich darlegt. Nur soviel: So mancher Echt-Mensch bzw. "Zuschauer-Akteur"(!) findet in der Illusion seinen Tod.
In der Mitte des Kurz-Romans erfolgt ein unvermittelter Bruch: Die bis dahin eingleisige Story nimmt eine krasse Wendung, Schauplatz und Story springen in eine völlig überraschende Richtung. Das macht einen wichtigen Teil des Reizes des Romans aus, irritiert aber anfangs so sehr, dass der Leser einen Fehler vermuten könnte (Falschdruck? Falsche Bindung der Druckbögen?).

Übrigens ist Neapel das Ziel, die "terroristische" Aktion erweist sich als robuster Einsatz eines Rettungsteams aus der Zukunftswelt, die 460 seit Jahren in der Filmwelt gefangenen Zuschauer (die vermeintlichen "Schwarzen Federn") zu befreien. Denn einer Filmblöcke der Studios arbeitet fehlerhaft ...

Wie öfters bei Wisniewski-Snerg wird der Held schließlich von seiner Liebe getrennt. Er muss auch hier auf sie warten oder neu nach ihr suchen. Nach aufmerksamer Lektüre wird sich der Leser denken, dass es sich bei Lucia um keinen "echten" Menschen handeln kann, eher um einen Schatten, eine Illusion als Teil der Filmwelt. Denn sie kann wohl letztlich nicht den "Projektor" verlassen und in die "Megastadt" zurückkehren. (Oder will sie das nicht?!) Egal: Schließlich kümmert Antoni nicht mehr der Charakter jener Welt, wenn er nur das geliebte Wesen (seinen Lebenssinn) wiederfinden kann, bzw. "ob ... dort, wo die Spukgestalten, die Schemen der fiktiven Welt überwiegen, unter den suggestiven Illusionen hin und wieder etwas Wirkliches erscheint, was verglichen mit einem unvollkommenen Körper ebenso ursprünglich wie gebrechlich ist, und ohne das es keine toten Worte gäbe und nichts, was sie beleben würde - die unsterbliche Seele unter den Trugbildern."

Wisniewski-Snerg hat sein ganzes Leben lang seelisch schwer gelitten. (Ich empfehle die (leider nur sehr kurze) Lektüre seiner Biographie auf Wikipedia.) Ob schwere familiäre Verluste in der Kindheit und Jugend, deutsche Besatzung oder langandauerndes kommunistisches Regime und zuletzt auch wilder Raubtier-Kapitalismus Anfang der Neunziger Jahre - die Wucht der erlittenen Schicksalsschläge, die Ohnmacht, sein Leben nicht selbstbestimmt führen und keine Erfüllung finden zu können, trieb den intellektuellen und hochsensiblen Schriftsteller in schwere Depressionen, ließen ihn über die Echtheit der Welt kritisch nachdenken. Seine Gedanken müssen immer wieder um dieses Thema gekreist sein: "Diese Welt - das kann doch alles nicht wahr sein!"


Wer Freude an derartiger melancholischer Philosophie hat, auch gern über das Wesen und den realen Wert des Begriffs "Materie" spekuliert und auch über die Phänomene der äußeren und inneren Suggestion (Hypnose und Autohypnose), ist hier richtig.