Cyngyz Ajtmatov: Dshamila. (1958)

Im Sommer 2023 unternahm ich einen Trekking-Urlaub in Kirgistan. Zweifellos einer meiner schönsten und stimmungsvollsten Reiseerlebnisse. Vor langer Zeit las ich Tschingis Aitmatows erstes Werk: seine "Diplomarbeit" zum Abschluss seines Studiums am Moskauer Literaturinstitut 1958. Als spirituelle Vorbereitung der Reise suchte ich nach kirgisischer Literatur, Musik und Filmen. Auch der unglaublich schöne Film "Dshamila" aus dem Jahr 1968 gehörte dazu. Die bezaubernde Natalija Arinbassarowa in der Rolle ihres Lebens! Aitmatow selbst tritt als Erzähler auf, als erwachsener Maler Seit, der sich an die entscheidende Phase seiner ausgehenden Kindheit, an seine Initiation zum Erwachsenen, zum Künstler erinnert. Fast der ganze Film läuft in Schwarzweiß; nur am Anfang und Ende sieht man - kindlich-naiv anmutende - farbenprächtige Bilder des Malers, die seine kirgisische Heimat zeigen. Und vor allem zwei Menschen, die seinem weiteren Lebensweg DEN entscheidenden Impuls gaben: Dshamila und Danijar.

 

So beginnt auch die Novelle. Zunächst schildert der erwachsene, reife Seit sein liebstes Bild. Kein perfektes, aber sein wichtigstes, das seine Erweckung zum Maler und erwachsenen Menschen symbolisiert: Ein Paar, dass in die abendliche Steppe hinausgeht, dem Betrachter den Rücken zuwendend, weggehend, schon fast den Bildrand erreichend. Sie wurden dem jungen Seit die wichtigsten und liebsten Menschen. Sie brachten ihn auf dem Weg. Ihnen widmete er in dankbarer Verehrung das Bild und die nun einsetzende Erzählung.

Nicht sofort stellt er sie vor. Er nähert sich ihnen mit Bedacht, zeigt das Umfeld, gibt dem (fremden) Leser Zeit, sich auf die Story einzulassen, in die Atmosphäre eines kirgisischen Dorfes zur Kriegszeit 1942 einzutauchen. Er beschreibt die Landschaft in atemberaubenden Farben und Metaphern, wie ein Maler seine Gemälde malen würde. Ich finde, Aitmatow gelingt hier mehr und leichter Magie als in manchen seiner späteren Werke. Dann folgen die Umstände des Kriegs und seine Familie, vergisst auch nicht fast beiläufig daran zu erinnern, dass es in den Jahren VOR dem Impakt des furchtbaren Krieg bereits einen großen Umbruch gegeben hat: die sozialistische Revolution in Russland und deren Folgen: Auch seine Familie hatte das Nomadentum aufgegeben, sich in einem Haus niedergelassen und betreibt nun in einer Genossenschaft Landwirtschaft. Doch noch sind die uralten Traditionen und Gebräuche stark. Eine Art Zwischenzeit. Man betet zu Allah, hält sich an strenge sittliche Regeln. Er schildert, dass zu seiner Familie eine zweite Mutter gehört: Nach dem Tode ihres Mannes, wurde sie nicht mit den zwei Söhnen allein gelassen, sondern wie es Tradition ist mit dem Bruder ihres Mannes verheiratet. Sie gehören zur Familie und so sind deren Söhne auch die Brüder von Seit. Seine eigene starke Mutter wird beschrieben, - obwohl warmherzig und nachgiebig - faktisch Familienoberhaupt - eine Baibitsche. Auch im Ail, der Gemeinschaft wird sie wegen ihrer Energie, Tatkraft und Klugheit geschätzt. Ihr Mann, ein Zimmermann, findet dagegen kaum Erwähnung. Der schweigsame, offenbar sehr einfache Mann geht früh aus dem Haus und kehrt spät heim, scheint im Leben und im Geist des hier etwa 15jährigen jungen Seit keine Rolle zu spielen! Wie viele andere schickte auch Seit's Mutter die älteren Söhne an die Front. Seit ist ihr geblieben. Aus der Schule genommen unterstützt er nun mit schwerer Arbeit im Haushalt und in der Landwirtschaft: Land und Soldaten müssen ernährt werden. Schon früh wächst er also in die Rolle des "Familien-Mannes", eines Ernährers und Beschützers. Darüber hinaus hat die Mutter ihre Quasi-Schwiegertochter Dshamila. Sie wird als selbstbewusst, unabhängig-unbeugsam, kraftvoll, arbeitsam-tatkräftig, unbedingt ehrlich-aufrichtig und überaus hübsch geschildert. Offene Ehrlichkeit ist provozierend und manchmal empörend. Auch ihr wird eingeschärft, keine Gefühle nach Außen zu zeigen: "Verbirg's in deinem Inneren!". Sie hält sich nicht daran! Der reine Altersunterschied zwischen Seit und Dshamila mag nicht groß sein, vielleicht ist sie 18 oder 19 Jahre alt, er 15. Doch sie ist eben eine reife junge Frau, die verheiratet wurde, während er sich noch im pubertären Umbruch befindet. Es wird nicht wirklich klar, ob Dshamila gegen ihren Willen verheiratet wurde. Vage hört man von einem Pferderennen, bei dem sie Sadyk nicht heranließ und somit beschämte. Das gibt es diese kirgisische Tradition (die in der Novelle NICHT erklärt wird ...): Mann und Frau (oft unverheiratete Mädchen) treten spielerisch gegeneinander an. Der Mann versucht die Reiterin einzuholen, sie ihn davon abzuhalten, sogar eins mit der Peitsche drüber zu geben. Erreicht er sie, darf er sie küssen. Es hängt also auch von der Frau ab, ob sie ihn "herankommen" lässt ... Dshamila hatte offensichtlich kein Interesse: sie jagte ihm davon. Sadyk begeht dann einfach "traditionellen" Brautraub und kommt so doch an sein Ziel. Unfair. Sadyk wird sich auch später stets und unreflektiert an die alten "Regeln" halten, die dem Leser unverständlich und seelenlos erscheinen. Selbst als er Briefe aus dem Krieg sendet, folgen diese immer stumpf den Regeln: die immer gleichen Standardsätze, die Reihenfolge der gegrüßten Familienangehörigen (streng hierarchisch), zuletzt eben immer Dshamila (die unterste). Sicher ein echter Dshigit - aber auch ohne eigene Seele, Denken, Kreativität erscheinend. Ein unerschütterlicher Vertreter der alten Ordnung in jeder Beziehung! Hat er Dshamila also jemals geliebt? Oder nur als Beute betrachtet. Nur vier Monate waren sie zusammen ein Ehepaar, dann riss sie der Krieg auseinander. Kinder wurden in dieser Zeit - bezeichnenderweise - nicht gezeugt. Dshamila scheint eine Hoffnung zu hegen, dass er sie doch lieben möge. Sie wird nie ein Indiz erkennen können, kein Zeichen erhalten, dass dem so ist. Sie ist - wahrscheinlich auch sexuell - frustriert und einsam. Allerdings kann sie das sehr gut verdrängen. Mit Arbeit und betont forschem Auftreten, mädchenhaftem Temperament, das aber immer wieder von überschwänglicher Herzlichkeit und Zärtlichkeit durchbrochen wird. Zwar sind andere Familienmitglieder z.T. irritiert und manchmal peinlich berührt: so etwas gehört sich nicht. Dennoch erkennt die Schwiegermutter offenbar einige ihrer eigenen Charakterzüge, vielleicht auch verdrängte Gefühle in ihr wieder. Offenbar hofft sie, Dshamila werde sie eines Tages "beerben". Insofern hat Dshamila vielleicht nicht direkt mit ihrem Mann (den sie ganz sicher nicht wirklich innig liebt) Glück gehabt, wohl aber mit der Familie. Mit ihrer teilweise seelenverwandten Schwiegermutter und natürlich mit dem geliebten "kleinen" Schwager Seit.

Die verbliebenen Männer stellen den Mädchen und Frauen nach. Auch ein gewisser Taugenichts Osmon. Für ihn ist der Krieg fast ein Glücksfall: Er drängt sich Frauen auf, will die Einsamen mit seiner Männerpeitsche befrieden! Unter anderen Umständen würde er verachtet. Jetzt sieht er seine Chancen. Seit wird allerdings Zeuge, wie ihn Dshamila voller Ekel abweist. Aber doch gekränkt ist. In einer anschließenden Szene wird man als Leser verwirrt, ob das folgende Verhalten Dshamilas nur aus Wut und Verzweiflung über die erlittene Kränkung (es ist ja nichts passiert!) resultiert, oder nicht auch aus einer gewissen "körperlichen Unruhe"? Einem leisen Zweifel, es nicht doch zu tun. Denn obwohl voller Verachtung sagt sie dem Osmon doch deutlich, dass sie Verlangen durchaus spürt. Warum also nicht vielleicht doch ...? Wer weiß schon, wie lange der Krieg dauert, wie lange sie "Soldatenfrau" ist, und schließlich welkt? Dieser (fremde) Ehemann im Kriege stirbt? Doch dann blickt sie in die Steppe, den Sonnenuntergang, träumt, lauscht. Offenbar sieht sie etwas. Etwas Großes, Schönes, das ihr Kraft und Zuversicht gibt.

 

Genau solche (wenigen) Szenen wird es im Verlauf der Novelle wieder geben: Diese verbinden die drei Haupthelden miteinander Sie nehmen zusammen etwas wahr, was offenbar sämtlichen anderen Personen der Story verborgen und ungefühlt bleibt!

 

Dshamila soll als Fuhrwerkslenkerin (eigentlich ein Männerjob) das Getreide zur Bahnstation fahren und dort beim Entladen helfen. Alles Getreide zur Front. Die Mutter weigert sich zunächst. Zu wertvoll ist ihr die Schwiegertochter. Außerdem fürchtet sie durchaus, dass Dshamila von den Kerlen umschwärmt werden wird. Seit aber wird sie begleiten und die große, vergötterte Schwägerin (Dshene) beschützen und verteidigen. Das tut er bereits: Keinen lässt er an sie heran. Der Erzähler (der erwachsene Seit) weiß es später zu erklären: er liebt seine schöne, stolze Schwägerin. Zugleich ist er noch vom kindlichen Egoismus erfüllt, seine Familie nicht mit Fremden zu teilen! Eifersüchtig beißt er jeden weg.

 

Bei der Arbeit lernen beide nun Danijar näher kennen. Nun wird er vorgestellt. Folgt man der Annahme, dass die Personen nach der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit in die Geschichte eingeführt werden, wäre er demnach Nummer Eins. Obwohl die Erzählung doch "Dshamila" heißt. Tatsächlich bringt er letztlich den Umbruch, das Neue, bewirkt er die Veränderungen! Er ist kriegsinvalid. Offenbar hat er tappfer an der Front gekämpft, kehrte nun aber als am linken Bein schwer Verwundeter heim. Jedoch ist er nicht wirklich "Heimischer". Er wuchs als arme, von allen herumgeschubste Waise auf, wurde offenbar gequält. Später lief er aus Kirgistan davon ins Kasachische; von dort stammte seine Mutter. Auch dort scheint er kein Glück gefunden zu haben. Viele Hilfsarbeiten werden genannt, zuletzt die Kohlegruben! Dennoch sehnt er sich nach der Heimat, liebt sie innig, weil er ahnt, dass ihn dort wohl doch sein Glück erwartet. Das erfahren Leser (und Dshamila und Seit) später. Den Kindern und Anwohnern erscheint er aber fremd, zunächst nur versonnen und introvertiert, desinteressiert, gar kein Dshigit! So wird er schließlich Ziel des Spotts bzw. Mitleids, man vergisst ihn praktisch als "armen sonderlichen Tropf". Er macht seine Arbeit so gut es geht, ja tatkräftig und zuverlässig, verhält sich aber sonderbar: Nicht nur, dass er sich von den anderen fernhält (er teilt nicht deren Interessen oder Wertvorstellungen), er erscheint finster, schläft sogar nicht im Haus, sondern in Heuhaufen am großen Fluss Kurkureu. Er liebt ihn offensichtlich. Nicht nur dessen Klang und unbändige Kraft, sondern schlicht, dass er fließt! Das er wegfließt und seinen Weg nimmt! Das wird dem Leser spätestens im letzten Text-Drittel klar. (Denn dann wird Danijar dem "stählernen Fluss", der Eisenbahn hinterherschauen.) Außerdem steht auch er gelegentlich da wie Dshamila: lauschend, in sich gekehrt, etwas wahrnehmend, das andere nicht sehen oder hören können. Bald zeigt sich, bei Danijar sind es Klänge und Töne! Im Herzen ist er ein Musiker und Sänger.

 

Dshamila und Seit können zunächst mit Danijar nichts anfangen. Sie behandeln ihn wie Luft, treiben ihre teilweise bösen Scherze mit ihm: Spotten und ziehen ihn auf, geringschätzen seine Männlichkeit, überholen ihn gern beim Wagenfahren um ihn hinter sich mit Staubschwaden zu bedecken. Nur allmählich erkennt Seit, dass Danijar dies alles zwar etwas traurig aber Dshamila doch bewundernd erträgt, dass er sie fasziniert und zunehmend sehnsüchtig beobachtet. "Es war etwas gutes, alles Vergebendes in seinem Blick, doch ... auch noch etwas anderes: verborgene, unstillbare Trauer, wie man sie empfindet, wenn man etwas heiß ersehnt, das einem unerreichbar ist." Seit wird es etwas ungemütlich, auch Dshamila bemerkt es, spielt aber darüber hinweg bzw. reagiert zunächst eher unbewusst (indem sie sich gegenüber ihm unbewusst die Kleider glatt streicht, den Rücken gerade rückt.). Einmal treiben es die beiden zu weit: Sie schmuggeln einen 7-Pud-Sack (115 Kilogramm) auf Danijars Wagen. Was für ein "Spaß"! An der Bahnstation angekommen, erkennt auch Dshamila etwas peinlich berührt die boshafte Gemeinheit und will helfen. Das kann sich Danijar nicht geben: er wuchtet die monströse Last geschultert auf den schmalen hölzernen Laufsteg nach oben, über den Abwurfplatz! Eine ganze Seite wird das unerhörte Ereignis detailreich geschildert, auch eine Schlüsselszene im Film. Eigentlich geht es doch um nichts?! Warum Gesundheit, ja Leben riskieren? Der Steg ist hoch, wacklig und schmal, der Sack schwer, die Kriegswunden im Bein brechen wieder auf. Für ihn ist es plötzlich die wichtigste Aufgabe, es geht um Stolz und Selbstachtung, den wütenden verzweifelt geäußerten Anspruch auf Achtung von anderen, v.a. von Dshamila. ALLE auf dem Bahnhof spüren das Unerhörte, Wichtige! Was für eine Szene, denn alle lassen ihn schließlich gewähren! "Es war, als wären die Träger alle durch ein unsichtbares Seil miteinander verbunden, als bewegten sie sich mit ihrer Last auf einem gefährlichen, schlüpfrigen Pfad, auf dem das Leben des einen vom anderen abhing. In ihrem einträchtigen Schweigen und dem gleichmäßigen Schwanken lag ein einheitlicher, schwerer Rhythmus." Dshamila und Seit sind erschüttert und tief beschämt. Alles ist danach anders.

 

Wenige Tage später versucht die verlegene Dshamila auf dem alltäglichen, nächtlichen Nachhauseweg die Stimmung aufzuhellen, singt etwas und fordert Danijar auf es auch zu tun. Er geht erst nicht darauf ein. Erst deutlich später beginnt er stockend einen brüchigen Gesang, dann wieder - schon mit beeindruckender Bruststimme, dann immer befreiter, lauter und leidenschaftlicher. Seit vermag nicht wiederzugeben, WOVON genau Danijar singt: Es scheinen z.T. spontane, improvisierte Melodien und Texte zu sein, nicht immer besonders viel Text. Aber Ton, Leidenschaftlichkeit und "hörbare" Gefühle und Liebe überwältigen Dshamila und Seit! Von nun an werden sie allnächtlich dem Gesang Danijars lauschen, sich schon morgens auf dem Weg zur Bahnstation auf den Nachhauseweg freuen.

 

Dshamila wird vom ihren Fuhrwerk absteigen, sich immer wieder Danijar nähern, die Hände ausstrecken, sich dann wieder erschrocken zurückziehen, bald wird sie ihm nicht mehr in die Augen blicken und ihm ausweichen, während Danijars Sehnsucht und Qual immer deutlicher werden. Und Seit wird seine Schwägerin nicht mehr gegen Danijar "verteidigen". Er liebt nun beide. Denn Danijar ist keinesfalls ein kalter, lebensfremder, desinteressierter Sonderling, sondern erweist sich im Gegenteil als empfindsamer Mensch, der eine tiefe, große Liebe in sich trägt. Danijars Selbstöffnung hat auch ihn aufgeweckt, auch er sieht die Welt nun völlig anders, nimmt das Verborgene wahr (wie konnte er "all das" übersehen?!) und produziert die Sehnsucht, seine Entdeckungen und Gefühle anderen mitzuteilen Danijar tut dies mit Gesang. Auch ohne explizite Worte, versteht der Zuhörer alles. Wie schafft er das, sein Herz anderen mitzuteilen? Seit erkennt, dass auch in ihm ein Talent wohnt, jahrelang versteckt, seine Gefühle auszudrücken: Er kann und will wieder malen! Die beiden ihm liebsten Menschen erwecken in ihm den Künstler! Der schöne Mitt-August!

Er malt auch: die beiden, wie sie zum ersten mal gemeinsam auf dem Wagen sitzen, sie an Danijars Schulter gelehnt. Es ist die erste, eine Bleistift-Version seines großen Bildes! Dshamila wird es entdecken und an sich nehmen: ihr junger Schwager weiß es, fühlt wie sie (da gibt es also mehr fühlende Männer als gedacht!), ihm kann sie vertrauen, auch Seit hilft ihr (mit dem Bild), sich ihrer Gefühle bewusst zu werden und ihnen zu vertrauen und zu folgen. Sicherer als zuvor (Scheu vor "Untreue") begegnen Dshamila und Danijar einander. Der Frühherbst wird traumhaft und glücklich.

 

Aber nun kommt die Nachricht, dass ihr Mann nach Verwundung und Lazarett heimkehren wird. Es scheint alles aus zu sein, bevor die große Liebe erblühen kann. Regen und Sturm ziehen auf. Danijar verzweifelt, flieht. Seit will ihn ungeschickt zurückhalten, ist aber noch nicht so weit, sich zu artikulieren. Er erlebt im nächtlichen Heu, dass Dshamila dies inzwischen kann. SIE kommt zu Danijar, SIE erklärt ihm ihre Liebe und fragt ihn ungläubig, wie er wohl denken könne, dass sie IHN wegen dieses Sadyk hergäbe?! Sie sagen, dass sie sich schon IMMER liebten, schon, bevor sie sich begegneten ... wussten sie voneinander.

 

Einige Tage später, an einem der letzten schönen Herbsttage sieht Seit die beiden in der fernen Steppe. Zufällig! Sie durchwaten den inzw. niedrigen Fluss, der ihnen den Weg hilfreich freizugeben scheint. Sie gehen Richtung Ausweichstelle der Bahn. Sie sehen Seit nicht. Er erkennt entsetzt, dass sie fortgehen, ihn verlassen. Er nimmt schmerzhaft Abschied von den liebsten, ihm nächsten Menschen … und auch von seiner Kindheit. Das Bild lässt Dshamila zurück, offenbar als letzten wortlosen Gruß.

 

Die niederträchtigen Verfolger des Paars haben kein Glück.

 

Später, nach Heimkehr seines Bruders Sadyk, wird das Bild gefunden und Seit als Verräter und Heuchler hingestellt. Seit ist inzwischen gereift: Unmittelbar weiß er, dass er die Liebe, die Wahrheit des Lebens und das reine Gefühl, das Schöne, v.a. Dshamila und Danijar eben nicht verraten hat. Zudem zeigt der Bruder keinen wirklichen Schmerz, keinen echten Verlust. Der ist nur in seiner Männlichkeit gekränkt. Nur um seine Mutter tut es Seit leid: Sie ist mit dem Fortgang der geliebten Schwiegertochter gebrochen. Sie zeigt Unverständnis über den Weggang, fühlt aber wahrscheinlich doch richtig, was da passierte. Vielleicht ist sie bestürzt darüber, dass Dshamila gelang, dass sie etwas tat, was auch sie hätte in ihrer Jugend tun können? Da stellt den Wert ihres ganzen eigenen Lebens furchtbar quälend in Frage ... Zumal das Bild beweist, dass auch ihr jüngster Sohn Seit Bescheid wusste und sich ihr nicht anvertraute, dafür aber mit dem Liebespaar fühlte. Also mehr, als mit der liebenden Mutter!

Sie ist schon resigniert aber eben nicht mehr dagegen, als ihr Seit - nun die Kindheit hinter sich lassend - mitteilt, dass er fortgehen wolle um Malerei zu studieren: "Geh nur. Ihr seid flügge geworden und schlagt auf eigene Art mit den Flügeln. Woher sollen wir wissen, ob ihr nicht einmal hoch hinauffliegen werdet? Vielleicht habt ihr recht. [...] Lerne, dann wirst du es selber merken. Und vergiß dein Vaterhaus nicht."

 

Und so kommt es auch: Seit verlässt das Dorf, diese Übergangs-Welt vom Alten ins Neue. Er studiert, seine Abschlussarbeit wird eine neue, farbige Version des ursprüngliches Bildes sein. Allerdings nicht, wie die beiden auf dem Wagen sitzen (sich erstmals einander offen ihre Zuneigung zeigend, beide im ersten gemeinsamen Glück), sondern, wie sie gemeinsam in etwas Neues aufbrechen und fortgehen. Denn es ist keineswegs eine "Flucht", sondern ein Aufbruch! In eine neue weite Welt mit vielen Wegen, wo sie miteinander nur glücklich sein können! Sich immer wieder aneinander festhaltend und aufrichtend. Denn anders kann es gar nicht sein!

 

Die Erzählung schließt mit der Rückkehr zur Bildbeschreibung und einer tiefen Dankbarkeit und Liebesbezeugung von Seit für Dshamila und Danijar, die beide auch ihn zum Aufblühen brachten! Auch Seit wird heimkehren und wie Danijar Landschaft, Heimat, Menschen, Familie und Liebe in Bildern besingen!

 

Die Parallelen von Seit und Tschingis Aitmatow scheinen offensichtlich. Offenbar erlebte Aitmatow diese Geschichte im Wesentlichen selbst. Genau das Bild (also diese Novelle) scheint mir sein eigentliches Hauptwerk: Und wenn es nichts anderes gäbe, was er schuf. Nur auf der Welt, um diese Geschichte von Bewusstwerdung, Erleuchtung, Initiation, Emanzipation, Aufbruch, Verlieben zu schreiben, mit-zu-teilen! Es wäre genug.

 

Es ist in seiner Sprache, seinen Bildern, seiner Wärme und Wahrhaftigkeit wirklich auch für mich die schönste literarische Liebesgeschichte der Welt.