Joachim B. Schmidt: Kalmann. (2020)


Ich vermutete zunächst einen weiteren nordischen Krimi: diesmal mit skuriller Hauptfigur und in humorvoller Art.
Es kam dann doch anders.

Schauplatz ist die abgelegene Siedlung Raufarhöfn in Nordost-Island - eine 175-Seelen-Gemeinde, die ihre besten Tage als florierender Fischereihafen hinter sich hat. Dort lebt der Sonderling Kalmann, ein isländischer Forrest Gump. Nicht schnell im Denken, mit kindlichem Gemüt. In gewisser Weise nachsichtig als "Dorftrottel" integriert. Weiß sich aber zu behaupten. Seinen Lebensunterhalt verdient er als letzte Haifischer und Produzent von Gammelhai, gelegentlich jagd er Polarfüchse. Resultat einer Affäre seiner Mutter mit einem amerikanischen Soldaten ist er vaterlos aufgewachsen. Sein Großvater war im Vaterersatz. Sein Tick: Er sieht sich als Art Dorfsheriff, als Beschützer des Orts und geht mit ererbten Cowboyhut, Sheriffstern und Mauser-Revolver umher.
Der Roman beginn mit Kalmanns Fund einer Blutlache am "Arctic Henge" (das es tatsächlich dort auf dem Hochland gibt). Gleichzeitig wird der "König von Raufarhöfn" Robert McKenzie vermisst. Der nicht gerade beliebte Mann spekulierte mit Fischfangquoten, betrieb ein Hotel (das mangles Touristen eigentlich nicht funktionieren kann), erbaute das Arctic Henge Kunstwerk. Schon bald ist die schwach besetzte Polizei in Person von Birna vor Ort und nimmt ihre Suche auf.

Was sich nun abspielt, ist keine klassische Ermittlungsstory! Sie passiert eher im Hintergrund; das ist nicht das, worum es dem Autor geht. Denn der Leser verfolgt das Geschehen mit den Augen Kalmanns - von ihm selbst in dessen lakonischer, einfacher, ja naiver Sprache erzählt. Man erfährt von seiner eigenen Lebensgeschichte. Von der Geschichte, dem Alltagsleben, dem dörflichen Beziehungsgeflecht und dem Verfall des Ortes. Vor allem auch von seiner engen Sozialisierung über die sehr innige Beziehung zum Großvater.
Darüber erhellt sich allmählich auch der Blick darauf, inwiefern er selbst in die Sache verstrickt ist. Denn diese Verstrickung ist ihm oft selbst nicht bewusst: Der 34-jährige "Junge" hat effektive Verdrängungsstrategien gegen Unangenehmes entwickeln müssen ...

So ist der Roman weniger Krimi - zwar mit einer Prise Humor - aber eben keine Komödie. Sondern eine Millieu-Studie des ländlichen Island aus ungewöhnlicher Perspektive. Ein Island im Wandel, der aber krisenhaft ausfällt und eben auch noch nicht wirklich gelungen aussieht: Wirtschaftskrise, Ökokrise, überfischte Meere, Spekulation mit zweifelhaften Fischfangquoten, Drogenproduktion und -handel, Immigration verbunden mit Fremdenfeindlichkeit, Abwanderung aus ländlichen Gebieten, soziale Schieflagen und Arbeitslosigkeit, unterschwellige Diskriminierung.

Kalmanns naiv erscheinende kurze Kommentare dazu sind oft erhellender als seitenlange sachliche Erörterungen. Man meint zuweilen, er verstünde besser als andere das Wesen der Dinge - aus dem Bauch heraus betrachtet und verstanden. Das hat ihm sein weiser Großvater beigebracht: einer, der als Kommi (Kommunist) verschrien ist, aber weiß, worauf es menschlich und überhaupt wirklich im Leben ankommt.

Nebenbei: Interessant ist aus meiner Sicht auch die einfühlsame, stilistisch fast konsequent durchgehaltene einfache Sprache und der Sichthorizont des Protagonisten aus der Icherzähler-Perspektive.

Der Fall klärt sich schlussendlich auf - zumindest für Kalmann und Polizistin Birna. Etwas makaber ist das dann übrigens schon ... Und im Finale behält Kalmann dann doch in gewisser Weise Recht und rettet Ort bzw. einen Menschen heldenhaft - vor einem Eisbären.

Gelungene Inklusion als akzeptierter Dorfdepp? Liest sich nur zeitweise sympathisch, ein fader Beigeschmack bleibt. Das beabsichtigt der Autor! Denn er bleibt ja in seiner Art einsam und fühlt sein Anderssein. Es gibt jedoch für ihn durchaus auch eine optimistisch stimmende Alternative, womit auch die Erzählung schließt.

Leichtfüßig zu lesen, im Prinzip - z.B. als Island-Reiselektüre - leicht verdaulich. Aber durchaus mit nachdenklichem Hintersinn und wunderbar atmosphärisch.