Hervé Le Tellier: Die Anomalie. (2020)

Überraschend und für meine Lektüre unabsichtlich: erneut ein Roman über die Frage nach der Realität, nach Gewissheiten in einer verrückten Welt! ... Und inwiefern dies unser Handeln beeinflussen würde bzw. beeinflussen sollte ...

Geschrieben von einem französischem Schriftsteller, dessen ursprüngliche Passion, die Mathematik, in diesem Werk spürbar ist: in Struktur und Aufbau, in der Thematik, in der Herangehensweise an Herausforderungen - der Weltsicht.

Geschrieben im Covid19-Pandemie-Jahr 2020 spielt es in der nahen Zukunft des Jahres 2021 - also jetzt.
Eine Boeing 787 der Air France auf dem Linienflug von Paris nach New York gerät im März des Jahres 2021 vor der Ostküste der USA in ein nicht vorhergesagtes plötzliches schweres Gewitter, in schwerste Turbulenzen. (An sich schon ein netter Witz: Turbulenzen zwischen Frankreich und Amerika ...) Mit knapper Not und schwer beschädigt entgeht es dem Absturz und landet auf dem JFK-Airport. Der Autor verfolgt das Schicksal des Kapitäns und einiger der glücklich geretteten Passagiere: Einige werden den fürchterlichen Flug zum Anlass nehmen, ihr Leben zu ändern.
Da ist Victor Miesel, mehr oder weniger unbeachteter Schriftsteller und Übersetzer, Mitte Vierzig, kinderlos, unverheiratet, distanziert. Er wird sein Leben als Leere, Vergeblichkeit und Lieblosigkeit "erkennen", einen letzten genial erscheinenden Roman voller beeindruckender Aphorismen schreiben ("Die Anomalie") und sich dann vom Balkon stürzen. Sein sofort veröffentlichtes neues Werk bringt ihm posthum höchste Ehre.
Da sind noch die Familie eine US-Soldaten im Afghanistan-Einsatz, das scheinbar ungleiche Paar Lucie und André (mit dreißig Jahren Altersunterschied), eine blutjunge amerikanische Schauspielerin Adriana, die aus ärmlichen Verhältnissen aufstrebende und aufsteigende Rechtsanwältin Joanna, der Auftragskiller Blake, der sensible nigerianische Afropop-Sänger SlimBoy, der sein Schwulsein verheimlichen muss.
Sie alle führen irgendwie ein Doppelleben, zeigen und leben nicht das offen, was sie sind.

Drei Monate später meldet sich dieselbe Maschine mit selben Personal und Passagieren erneut am JFK-Airport an! Das Unerhörte, das Undenkbare ist eingetreten. Für hunderte Szenarien (sogar undenkbare wie unterschiedliche Begegnungen mit Außerirdischen oder Godzilla-Zusammenstöße) verfügt die us-amerikanische Luftüberwachung Verfahrens-Protokolle. Das letzte Protokoll für nicht erfasste Szenarien ist das "Protokoll 42". Es wird umgehend ausgelöst und das Flugzeug, von Kampfjets begleitet, zu einem Militär-Flugplatz umgeleitet, wo Besatzung und Passagiere in einem Hangar einquartiert werden. Ein großes Team aus den besten Wissenschaftlern, Psychologen, Militärs und Geheimdienst-Leuten soll das Rätsel lösen und v.a. einen Ausweg aus dem Dilemma finden. Denn man kann und will die Leute schließlich nicht einfach verschwinden lassen bzw. das Ereignis dauerhaft verheimlichen! Eine zentrale Rolle nehmen hie die Mathematiker Adrian und Tanja ein, die seinerzeit nach 9/11 die Protokolle und Richtlinien bei Vorfällen im amerikanischen Luftraum ausarbeiteten.

Die vorgestellten Personen führen also nicht nur ein - im ersten Teil des Romans geschildertes - Doppelleben, sondern haben nun tatsächlich physisch und geistig exakte Doppelgänger. Wer ist echt und wer "Kopie"? Unter welchen Bedingungen darf man die Neuankömmlinge in die Welt entlassen? Dürfen sie ihrem anderen "Ich" begegnen, das inzwischen weitergelebt, sich verändert hat und gereift ist? Welchen Anspruch haben sie auf ihre Familien, ihren Besitz - welche Rechte? Wie wird die Welt auf sie reagieren - mit Angst und Aggression als "Ausgeburten der Hölle", die Gottes Schöpfung zuwider seien?

Der erste Teil des Romans stellt kapitelweise die einzelnen Protagonisten und ihr Leben vor: psychologisch einfühlsam, ausführlich genug, nachdenklich. Dann folgt ein eher turbulenter Teil: die Beschreibung des Abenteuers, der Arbeit des Spezial-Teams zum Umgang mit der Situation einschließlich wissenschaftlicher Erklärungsversuche, politischer Reaktionen.
Plausibelster Ansatz ist übrigens schließlich die Theorie, dass unsere Welt nicht real, sondern virtuell sei: eine Simulation in einem Computer, um unter verschiedenen Ausgangsbedingungen den Lauf der Dinge oder zumindest der menschlichen Geschichte durchzuspielen. Die Verdoppelung von Maschine und Menschen sei kein Fehler, sondern ein gewollter Test, der über den weiteren Verlauf der Simulation, ja ihren Weiterbetrieb oder ihr Ende entscheiden könnte. Spätestens bei den politischen Reaktionen entwickelt sich der Plot zur Komödie. Die Chinesen haben ihre eigene Flugzeug-Anomalie ein Jahr zuvor erlebt, wovon niemand anders als die chinesische Führung weiß. Natürlich vermisst niemand die Doppelgänger ... Während andere Präsidenten beim Namen genannt werden, muss der Name eines gewissen amerikanischen Präsidenten keine Erwähnung finden. Der ähnelt irgendwie "einem Barsch mit offenem Maul unter einer goldenen Perücke" ... Die Szenen der Besprechungen mit ihm und seinem Team geraten zu grandiosen Komödien, die ihn gnadenlos lächerlich und dumm darstellen. Schallendes Gelächter garantiert, wenn man nicht unsere "Realität" und die Folgen solchen "Regierens" kennen würde und zum Ende des Romans das Lachen im Halse steckenbleiben lässt ...

Man kann das Geheimnis nicht dauerhaft wahren, will es auch nicht. Nach nur drei Tagen und ersten undichten Stellen verkünden die Regierungen der Welt das Phänomen und bemühen sich, die erwartbaren Wogen zu glätten. Die Doppelgänger werden einander unter psychologischem Beistand vorgestellt. Sie können entscheiden, ob sie offen weiterleben wollen oder einen neue Identität erhalten. Der Welt werden die Namen der Passagiere und der konkrete Flug nicht verraten und sämtliche digitalen Spuren getilgt - v.a. durch den eingespannten NSA. Dies ist eine logische Schwäche des Romans: Haben sich einige der Passagiere (im TV!) offen erklärt und weiß man um Monat und einige meteorologische Umstände der Anomalie, sollte die Journaille keinerlei Probleme haben, den konkreten Flug und dessen Passagiere zu ermitteln bzw. die wenigen Coming-Outler zu kontaktieren, um man weitere helfende Infos und Details zu gelangen.

Das letzte Drtittel des Romans schildert die Begegnungen der Doppelgänger miteinander und ihre unterschiedlichen Reaktionen, Methoden, Strategien, mit der Situation umzugehen. Das hängt natürlich von den Umständen ab. Schriftsteller Victor z.B. verspürt keinerlei selbstmörderischen Anwandlungen mehr, sogar der zwischenzeitliche Erfolgs-Roman seines suizidierten Doppelgängers ist ihm fremd. Er hat keinerlei Probleme, gibt es doch keinen "Rivalen", mit dem er irgendetwas teilen müsste. Das sieht bei Lucie schon anders aus: Wem gehört der geliebte Sohn? Ihr oder ihr? Und so weiter. Der Roman kehrt zur ernsthaften Charakterzeichnung zurück.

Schließlich wird es böse: Trotz mühsam errungener Vereinbarungen kommt es zu Ausbrüchen religiöser Gewalt. Fanatiker können sich weder mit den "Neuankömmlingen" abfinden noch mit ihrer evt. Rolle als "Computerprogramme" in einer Simulation. Im Prinzip hätte sich ja nichts geändert: Welt und Menschheit wären von einer höheren Macht, einer höheren Intelligenz erschaffen, mit bestimmten Regeln, zu einem bestimmten Zweck. Die Menschen, pardon: "Programme" erhielten im Rahmen dieser Welt gewisse Entscheidungs-Freiheiten. Aber dennoch wollen sie wohl keinen "großen Programmierer" anbeten. Es kommt - natürlich in den USA - zu Mordanschlägen aus dem evangelikalen Milieu heraus. So sind sie, diese fanatischen Einfaltspinsel: "immer denen misstrauen, die uns auffordern, misstrauisch zu sein"!
Und als sich schließlich im Oktober 2021 dieselbe Boeing zum drittenmal amerikanischem Luftraum nähert, handelt der "Präsident" schnell und grimmig: Die Maschine wird abgeschossen.
Das Programm / die Simulation scheint danach zu enden, diesen Eindruck vermitteln die letzten Textfetzen. Die Menschheit hat den Test wohl nicht bestanden. Denn er galt nicht den Individuen - ihn hätten einige der Helden sicher gemeistert. "Die Simulation denkt [jedoch] den Ozean, die Bewegung der einzelnen Wassermoleküle ist ihr herzlich gleich. Es ist die gesamte Menschheit, von der die Simulation eine Reaktion erwartet. Es wird keinen höchsten Retter geben. Wir müssen uns selbst retten." Es scheint paradox: Aber gerade die im Roman gedachte "simulierte Virtualität unserer Welt" erlegt den Menschen mehr kollektive Verantwortung auf!

Ich habe mich köstlich unterhalten. Zunächst erwartete ich einen feinen psychologischen Roman über die Begegnung, die Konfrontation der Doppelgänger, der Menschen mit ihrem eigenen / anderen "Ich". Eine Reflexion über ihr Dasein, ihre bisherige Existenz, den Sinn des Lebens, die Freiheit eigener Entscheidungen und selbstständigen Denkens, über das vermeintliche Schicksal.

Hinzu kam nun überraschenderweise "verzweifelter" Humor, gallige, wütende Ironie über politische Schwachköpfe in höchsten Positionen, die unsere Welt anzuführen beanspruchen, über unglaublich kleingeistige, aggressive und dumme Religionsvertreter. Es ist auch eine Schrift der Verachtung von Religion und ein Lob der Philosophie und Wissenschaft. "Die Religion ist ein fleischfressender Fisch aus der Tiefe des Meeres. Sie entsendet ein kaum wahrnehmbares Licht, und um ihre Beute anlocken zu können, bedarf es tiefer Nacht."
Ein letztlich sehr pessimistischer Blick auf den Zustand unserer Welt und unserer Überlebensaussichten. Ja, so sind wir eigenartigen Cro Magnons eben: "Hier sind unsere Glaubenssätze, lasst uns nach Fakten suchen, die sie beweisen." Und nicht etwa, wie es doch sein sollte: "Dies sind die Fakten, schauen wir, welche möglichen Schlüsse wir daraus ziehen können."
Wohin hat ist unser Denken (im angeblich aufgeklärten Westen) in den letzten Jahren nur verirrt?
Denn oben Erwähntes führt unweigerlich zu einem neuerdings immer deutlicherem Problem, dem menschlichen "Bedürfnis nach Reduzierung der "kognitiven Dissonanz"". Das erinnert uns an die Büchse der Pandora, der - der Sage nach - alle Übel entwichen, bis auf ein Ding: "die Hoffnung". Sie wird allgemein positiv gesehen. Nicht so vom Autor Tellier. Sie ist ein großes Übel. Denn sie bewirkt, dass sich nichts ändert.! "Wir sind blind für alles, was beweisen könnte, dass wir uns irren. Das ist menschlich. Wir sind nicht rational. [...] Ja. Wir sind bereit, die Tatsachen zu verdrehen, wenn es darum geht, ein Spiel nicht ganz verlorenzugeben. Wir wollen noch auf die geringste unserer Ängste eine Antwort, und wir wollen ein Mittel, die Welt zu denken, ohne unsere Werte, unsere Emotionen, unsere Handlungen in Frage zu stellen. Nehmen Sie den Klimawandel. Wir hören nie auf die Wissenschaftler. Wir pusten ungebremst [...] Kohlenstoff aus fossilen Energiequellen in die Luft, seien sie nun virtuell oder nicht, wir erhitzen unsere virtuelle oder nicht virtuelle Atmosphäre, und unsere – abermals virtuelle oder nicht virtuelle – Spezies wird erlöschen. Nichts ändert sich. Die Reichen zählen darauf, alleine, und gegen alle Vernunft, davonzukommen, und den anderen bleibt die 'Hoffnung'."

Wäre das Ganze nur eine abstrakte literarische Versuchsanordnung, ein Denkspiel, das zu solchen Erkenntnissen führt - es hätte mich als Leser bereits zufriedengestellt. Ein intellektuelles, gewitztes Feuerwerk. Was mich aber besonders einnimmt, ist die warme und tiefe Schilderung der Menschen / des Menschlichen in dieser Situation.