Jan Valetov: Zone. Zu jung, um zu sterben. (2017)
Um es gleich vorwegzunehmen: die schwächste Story, die ich in diesem Jahr las! Verursacher ist der ukrainische Bestseller-Autor Jan Valetov. Den hierzulande noch keiner kannte. Aber wenn ich einmal angefangen habe, ziehe ich das auch durch ... und verplempere damit Lebenszeit.
Die Welt im 22. Jahrhundert. Eine Pandemie tötet weltweit jeden Menschen, der das 18. Lebensjahr erreicht. Die technische Zivilisation ist weitgehend zusammengebrochen, die Städte verfallen, die Natur hat sich große Teile der Welt zurückerobert. Vernachlässigte Atomkraftwerke sind in die Luft geflogen und haben ganze Regionen verstrahlt. Vereinzelt kämpfen Kinderscharen, vereint in einzelnen Stämmen und zusammengehalten von diktatorischen Kriegsherren und Schamanen mit aller rohen Gewalt um ihr Überleben. Sie haben sich so etwas wie eine Notzivilisation aufgebaut, die auf einfachsten und brutalen Regeln beruht, zehren noch großteils von den Hinterlassenschaften der früheren Menschheit, haben aber inzwischen auch begonnen, nicht nur zu plündern und zu rauben, sondern sich aus eigener Kraft zu erhalten: Sie handeln untereinander, gehen auf Jagd, betreiben teilweise wieder Landwirtschaft, rauben sich gegenseitig Mädchen, die früh und mehrfach Kinder zu gebären haben. Der Fortbestand ist gesichert.
Andere toben sich sadistisch enthemmt in der Anarchie aus, bevor sie verrecken.
Knapp 100 Jahre sind nach der Katastrophe vergangen: In den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts führte eine Kette unglücklicher Zufälle dazu, dass aus einem us-amerikanischen Militärlabor, das an Biowaffen forscht, der todbringende Erreger mit dem zynischen Namen "Peacemaker" entweicht und ausnahmslos alle Menschen kontaminiert. Er tötet sofort oder er ruht in den Körpern bis zum 18. Lebensjahr (was das Virus an den Längen von DNA-Abschnitten "abliest") und lässt dann den Menschen innerhalb einer knappen Stunde altern, sterben, zur Mumie vertrocknen.
Erzählt wird die Geschichte vom etwa 17-jährigen Tim, auch verächtlich Nerd genannt. Er ist der einzige Lesekundige seines Stammes in einem ehemaligen Vergnügungspark, der sein ganzes kurzes Leben in einer zunehmend verwüsteten Bibliothek verbrachte. Aber als nützlicher Jäger oder Soldat nichts taugt. Die brutalen "Bosse" erkennen seine Fähigkeiten nicht und verstoßen den angeblich unbrauchbaren Weichling aus dem Stamm, nachdem er auf der Jagd einen Hirsch entkommen ließ.
Draußen lebt noch ein anderes ehemaliges Clan-Mitglied: Hanna oder einfach Belka. Den Namen "Belka" (russisch für Eichhörnchen) gaben ihr andere wegen ihrer roten Haare; zudem lebt ein zutrauliches echtes Eichhörnchen als ihr Maskottchen, lebender Talisman, ja eigentlich auch ihr Alter Ego in der Kapuze ihres Hoodies. Das Mädchen ist etwa ebenso alt wie Tim und hat sich ihrer Rolle als Lustobjekt, Arbeitssklavin und Kindergebärerin durch Flucht in die Wälder und Sümpfe der Umgebung entzogen. Zwei oder drei Jahre überlebte sie nun - inzwischen zur einsamen erbarmungslos-effizient tötenden, kalten Kriegerin gewandelt.
Die beiden finden zueinander, denn der gebildete Tim kann etwas anbieten: Er hat das Tagebuch der ersten Anführerin seines Stammes gelesen, einer Augenzeugin der Ereignisse vor 100 Jahren. Darin erwähnt sie, dass es durchaus ein Antidot zum grassierenden Virus gibt: und zwar noch immer im festungsartigen, verbunkerten Militärlabor etwa 200 Meilen von ihnen entfernt im Norden. Sie haben noch maximal ein Lebensjahr vor sich, sind ausgestoßen und vogelfrei, werden ohnehin gejagt - haben also nichts zu verlieren. Sie machen sich auf den langen Weg, durch das Gebiet verfeindeter Stämme und von diesen verfolgt. Denn auch die Chiefs der Stämme möchten nun das - zuerst für Spinnerei gehaltene Medikament - das ihnen geradezu ewiges Leben und damit ewige Herrschaft bescheren soll. Vier- bis fünfhundert Seiten Hetzjagd, Morden, Plündern, Vergewaltigen, Kampf- und Fluchtbeschreibung. Laut Aussage des Autors in seinem Nachwort ziemlich brutal, gewalttätig und "naturalistisch" und entschuldigt sich damit fast. Ich sehe das nicht so: hier ist nichts "naturalistisch" im Sinne von realistisch. Das ist über weite Strecken ödeste Beschreibung von Kämpfen wie aus dümmsten amerikanischen B-Movies oder Ballerspielen. Mit extrem langweilig-ärgerlichen, klischeeartigen, einfallslosen, idiotischen Dialogen - ebenfalls aus dutzenden Filmen bekannt. Ich will hier keine peinlichen Beispiele zitieren. Sie sind auf jeder Seite zu finden. Der Schriftsteller ist in meinen Augen kein Schriftsteller, der ein Konzept im Kopf gestaltet, dessen Form dem Genre "Roman" entspricht. Er scheint eher Dauer-Konsument dümmlicher US-Blockbuster-Movies und von Baller-Games zu sein. Er hat diese Bilder und Dialoge im Stile solcher Filme im Kopf und das tippte er dann halt rauschhaft wie ein Berserker ohne kritischen Blick nieder: das ist die wortreich beschreibende Wiedergabe eines Action-Filmes in seinem Schädel. Wie man es bereits dutzende male sah. Eine realistische, einfühlsame, ambivalente Charakterzeichnung unternimmt der Schriftsteller-Faulpelz nicht: einfachste, sich nervtötend wiederholende Sätze, Aneinanderreihung einfallsloser Schimpfwörter (gleiche Diktion wie in US-Action-Filmen: "Scheiße, scheiße, scheiße auch"), reine Bösewichter, die natürlich alle aus Mund und Achselhöhle stinken und gern Speichel auf ihr Opfer tropfen. L-a-n-g-w-e-i-l-i-g! Und alle sind selbstverständlich irre und wahnsinnig. Geradezu obsessiv wiederholt das Autorchen solche ermüdenden Beschreibungen - weil weder er noch seine Lektoren den Text sorgfältig durchsahen und komprimierten. Die Mängel liegen an der Unfähigkeit des Schreiberlings: Die renommierte Übersetzerin Christiane Pöhlmann hat dutzende Werke ganz anderer Güte aus dem Russischen ins Deutsche übertragen. Sie kann das! Aber hier war anscheinend nichts zu retten. (Wenigstens hat es Frau Pöhlmann finanziert ...)
Lediglich der mittlere Teil des in drei Bücher gegliederten Machwerks ist leidlich interessanter, weil kompakter geschrieben, als das reine öde Road Movie am Anfang und Schluss. Das ist die im genannten Tagebuch der ersten Anführerin, ebenfalls Hanna mit Namen, vorgetragene Geschichte der Katastrophe und der ersten Wochen und Monate danach. Der sehr rasche Zusammenbruch jeglicher Ordnung, die fast sofortige Verrohung der orientierungslosen und traumatisierten Kinder und Jugendlichen. Deren wildeste und rücksichtsloseste Individuen sofort ein unbeschreibliches Terrorregime errichten bzw. in Anarchie versinken und - ohne jegliche Perspektive - alles um sich herum niederreißen. Parallel dazu die Bemühungen weniger Halbwüchsiger mit ausreichender Mischung aus Klugheit, Kraft aber auch brutaler Rücksichtslosigkeit gegenüber einzelnen Menschen, eine überlebensfähige Gemeinschaft aufzubauen. Die aber keine Demokratie sein kann ... Ja, ja: die hauchdünne, zerbrechliche kulturell-zivilisatorische Fassade des Affen "Homo Sapiens", der jederzeit mögliche Abbruch des Menschlichen und rasante Übertritt zu einer Bestie. Besonders bei Kindern und Jugendlichen ohne Regeln, Vorbild und Bildung.
Man hätte etwas aus dem Setting machen können: Eine Welt aus führungslosen, unreifen Kindern ohne Perspektive. Was für eine Gesellschaft sollen, können sie aufbauen und erhalten?! Der Autor meint, dabei käme nur ein äußerst brutales und rohes Chaos heraus, eine Welt einander bekriegender Pavian-Sippen. Immerhin mit Ansätzen zu einem zumindest regionalen Handel / Wirtschaften, zu einer Religion, zu einem despotischen Herrschaftssystem. Aber alles auf niedriger Komplexitätsstufe, da nichts längerfristig entwickelt werden kann. Da über allem der rasche unausweichliche Tod steht, der jegliche nachhaltig-gedachte Bemühungen entwertet. Nur dazu führen kann, möglichst schnell und rücksichtslos zu fressen und zu ficken. Auch rücksichtslos zu sich selbst. Denn auch das eigene Leben hat kaum Wert.
Es gibt auch Ansätze, unterschiedliche gesellschaftliche Konzepte darzustellen: Da gibt es den Stamm, der auf eine Priesterin als Stammesanführerin setzt. Ist aber nur ein seelenloses tötendes Sex-Monster. Auch hier war der russische Autor Glukhovsky mit seinem bizarr-vielfältigen Metro-Universum unterhaltsamer.
Daraus hätte man also mit etwas mehr Mühe, Interesse und Zeit einen viel besseren Jugend-Roman als diesen Quark schreiben können!
Denn es gibt einen Vergleich! Just im Corona-Herbst dieses Jahres 2021 läuft auf dem TV-Kanal arte eine italienische sechsteilige Mini-Serie "Anna", basierend auf dem gleichnamigen Roman von Niccolo Ammaniti aus dem Jahr 2015. Ja: "Anna"! Klingt wie Hanna, oder?! Und ja, auch dort bringt eine Krankheit "die Rote" allen über 18-jährigen den unausweichlichen Tod. Auch dort kämpfen die Kinder um ihr Überleben, organisieren sich in Tribes, entwickeln Hilfs-Religionen usw. Nur ist dort alles noch ausweg- und hoffnungsloser: Kinder können sie nicht bekommen, das absolute Ende ist damit nach 18 Jahren vorgezeichnet.
Ich möchte hier nicht den Film beschreiben. Nur soviel: Im Vergleich zu diesem Romanchen ist das Film-Szenario absolut realistisch und die Figurenzeichnung verschiedenster Protagonisten höchst subtil und tiefgründig. Also: vergleichsweise! So geht das - hmh - zumindest BESSER. Jedenfalls, trotz aller Gewalttätigkeit auch in diesem Film, deutlich mehr Empathie und Interesse an den (kindlichen) Menschen in der eigenen Story. Man sollte doch Interesse des Autors an den eigenen Geschöpfen erwarten dürfen!
Na schön, ich will nicht naiv sein: Valetov war vom Stoff begeistert, aber unfähig seine Talentlosigkeit zu erkennen ... sah aber die geldproduzierende Möglichkeit des Wiederkäuens. Ich meine also: der Valetov hat die Idee einfach übernommen, ja geklaut, adaptiert und neu arrangiert - leider mit deutlich weniger Talent und ohne wirkliches Interesse.
Übrigens sehr witzig: Man beachte den bescheuerten deutschen Titel "Zone. Zu jung, um zu sterben"! klingt schon wie ein billiges Filmchen auf Tele 5. Der Originaltitel ist da melancholischer: "Lucsi vozrast dlja smerti" = "Das beste Alter für den Tod". Viel versprechend bitter-schön. Wird nur nichts raus ...!
Der Roman hängt hinten einen zweiseitigen Epilog an, kommt damit aber nicht aus. Nei-hein! Sondern krönt das epochale Oeuvre dann noch mit einem weiteren mageren "Postskriptum"... Lächerlich. Um darin einen doofen Cliffhanger (ja, wir sind immer noch im Kinofilm-Hirn des Ukrainers) unterzubringen: einer der Bösewichter überlebte das letzte Gefecht im Militärlabor (ja, das blöde Gegenserum wurde rechtzeitig gefunden!) und schleppt sich ("Hass, Hass, Hass gleißte in seinen feurigen, wahnsinnigen Augen") durch die Atom-Wüste. Oh ja, eine Fortsetzung droht!
Nee danke.