Jerzy Zulawski: Auf dem Silbernen Globus. (1901)
Jerzy Zulawskis Mond-Trilogie gilt als erste wirkliche polnische Science Fiction. Und zweifellos gehört Zulawski damit zur polnischen Klassik wie beispielsweise Sienkiewicz oder Lem. Den ersten Band schrieb Zulawski 1901 - da plante er vielleicht noch keine Fortsetzungen. Diese folgten erst nach 1910. Danach hatte er nicht mehr lange zu leben: Der polnische Patriot verstarb 1915 in einem Kriegslazarett an Typhus.
Erwähnenswert ist auch, dass sein Großneffe Andrzej Zulawski, ein skandalumwitterter polnischer Regisseur v.a. der siebziger bis neunziger Jahre (meist im Exil lebend und drehend), das Werk verfilmte. Allerdings nicht finalisieren konnte: Zu 80 Prozent seien die Szenen 1976 gedreht worden, dann verbot das polnische Kulturministerium die Weiterarbeit und verbrannte alle Requisiten usw. Das Filmmaterial überlebte und konnte 1988 zusammengesetzt werden. Fehlende Minuten ersetzten Szenen aus dem realen Polen Ende der Achtziger, hinterlegt mit einer Stimme aus dem Off, die Erklärungen abgibt ...
Jerzy Zulawskis Roman erinnert nur anfangs an Jules Verne: Da wird eine fünfköpfige Crew aus dem äquatorialen Urwald mittels einer Kanone zum Mond geschossen: vier Männer und eine Frau - dem Amerikaner O'Tamor, dem Engländer Thomas Woodbell und seiner Geliebten Inderin Martha, dem forschen, bisweilen hitzköpfigen Macho-Portugiesen Pedro Varadol und dem nachdenklichen Polen Jan Korecki. Ihnen sollen nach einem Monat zwei Franzosen (die remogner-Brüder) folgen. Auf dem Mond angekommen, sollen sie mit dem zu einem Elektrofahrzeug umgebauten Mondraumschiff zur Rückseite des Mondes vordringen: Dort erhofft man sich bewohnbare Gefilde: Luft, vielleicht Pflanzen, Meere ...
Es ist eigentlich ein Himmelfahrtskommando von Desperados (die als Team eigentlich gar nicht funktionieren!), denn eine Rückkehr ist offensichtlich nicht vorgesehen. Auch die Landung geht schief, gerät zum Absturz: Gleich anfangs stirbt der Kommandant und Mentor des Unternehmens O'Tamor, später auch der bei der Landung schwer verletzte Thomas, trotz aufopferungsvoller Pflege seiner Gefährtin Martha, die natürlich während der Krankheit und auch danach nur ihn sieht, komplett und dauerhaft ausschließlich auf ihn fixiert ist. Inzwischen haben sie sich auf die tausende Kilometer lange Fahrt zur Rückseite gemacht - via Nordpol. Ein Drittel des Romans wird diese abenteuerliche, extrem entbehrungsreiche Tour der Qualen beschrieben. Exakt die Strecke geschildert. Man könnte wohl einen Mondglobus neben sich stellen und die horrende Route nachverfolgen. Unterwegs treffen sie auf die Überreste der zweiten Expedition: Die Franzosen waren schrecklich abgestürzt und beide ums Leben gekommen. Auch eine vermeintliche Mondstadt-Ruine wird gesichtet, kann jedoch nicht näher erforscht werden. So bleibt deren Natur (eben "Natur" oder "künstlich") im Unklaren.
Streckenweise fasziniert und erstaunt die für Anfang des 20. Jahrhunderts exakte Beschreibung der Verhältnisse auf dem lebensfeindlichen Mond. Mich ermüdete aber diese Beschreibung eher. Wegen ihrer außerordentlichen Länge! Stanislaw Lem in seinem Nachwort zur suhrkamp-Ausgabe singt ihr hingegen Lobeslieder: Gerade in dieser naturalistischen, kühlen Schilderung läge ein beständiger Wert. Dabei ist das nicht das Ziel des Zulawski-Romans! Vielmehr wendet sich das Buch an erwachsene Leser (und nicht an abenteuer-süchtige Jungs). Denn sie führt hin zum eigentlichen Thema: der modellhaften Ausbreitung seiner kritischen Geschichtsphilosophie inkl. Genese des religiösen Mythos. Auf der Rückseite des Mondes angekommen, in einer bewohnbaren Umgebung mit einem großen Meer, Wäldern und Tieren, erbauen die verbliebenen Expeditions-Teilnehmer eine neue Gesellschaft. Ohne es zu wollen. Denn Martha ist von Thomas schwanger! Und die beiden Herren kämpfen bereits seit Wochen des Trecks mit ihren Hormonen bzw. unterdrückter Sexualität, begehren sie. Während der eine seine Triebe niederkämpft (und aus Achtung der Frau gegenüber deren Würde bewahrt), sich zurückzieht, setzt sich der stürmischere Pedro durch. Ihm gibt sich Martha unwillig und voller Verachtung hin - jahrelang: Denn sie will ihrem abgöttisch geliebten Sohn Tom, der für sie die Reinkarnation des Mannes Thomas darstellt, Gespielinnen schenken, damit er nicht so einsam sei. Die beiden geborenen Töchter Lilli und Rosa behandelt sie denn auch bestürzend schlecht - nicht wie geliebte Töchter, wie Menschen, sondern als sklavenhaftes Spielzeug für ihren Sohn. So wird dieser sie auch behandeln: mal liebkosen, sich befriedigen, dann wieder schlagen. Der werdende Tyrann gibt "als Gegenleistung als einzig … ihn zu lieben"! (Später zu Frauen geworden, werden sie ihn dennoch phasenweise dominieren. Das er ihnen dienen müsse …)
Jan versucht auszugleichen, vermag hier aber wenig zu erreichen bzw. fehlende Mutterliebe zu ersetzen.
Jahre später kommt noch eine weitere Tochter, Ada, zu Welt. Zur Enttäuschung Pedros, der sich inzwischen in ein psychologisches Wrack verwandelt hat. Ada wird ganz anders als ihre beiden Schwestern sein, die sich (doch ziemlich unglaubwürdig) vollständig dem Bruder unterworfen haben.
Sie gehört sich selbst und nicht dem Bruder. Sie rebelliert, entzieht sich und folgt eher ihrem hochgeehrten Lehrer Jan.
Martha und Pedro sterben infolge eines schweren Vulkanausbruchs, nachdem Jan auf einer nahen kleinen Insel Überreste einer alten Mondzivilisation fand. Dort wird er auch beide Gefährten beisetzen.
Bislang wurde die Story detailliert, ja minutiös erzählt. Schließlich ging es doch um die psychologische Begründung der entstehenden Gesellschaft. Und gerade jetzt nimmt die Geschichte drastisch an Geschwindigkeit zu: Jan, als einziger Überlebender der urspr. Mannschaft, erzieht die nun schnell wachsende Gemeinde - allerdings verliert er allmählich an Elan. Er versinkt in Trauer und Sehnsucht an die Erde, die er verlassen hat und an seine Gefährten, die ihn verlassen haben. Er ist einsam, altert, lebt und träumt in der Vergangenheit. Des öfteren zieht er sich zum Pol zurück, in eine ewig-dämmerige Zwischenwelt, von wo aus die Erdkugel immerhin sichtbar ist. Er wird dauerhaft depressiv. Die Gedanken wiederholen sich. Eine Zeitlang glaubt der Leser an nervenden Redundanzen des Autors Zulawski. Ich denke aber, diese ständigen Wiederholungen sind gewollt und demonstrieren um so deutlicher den traurigen Sog, die geistig-mentale Abwärtsspirale, in die Jan ausweglos gerät, das "Sich-im-Kreise-drehen".
Auch das trägt dazu bei, dass ihm die neue menschliche Sozietät in jeder Hinsicht entgleitet. Diese "Wilen" sind ihm nicht mehr nahe. Ada übernimmt spätestens nach dem frühen Tode ihres Bruders Tom die spirituelle Führung. Sie wird zu einer Art Hohepriesterin. Jan wird zur Legende, zum gottgleichen "Alten". Teilweise von Ada erschaffen und installiert, teilweise glaubt sie wohl selbst daran. Ausgerechnet die, die aus ihm einen Gott macht und die Jan für eine seltsame, wahnsinnige Frau hält, versteht ihn vielleicht noch am ehesten: seine Güte und seine grenzenlose Einsamkeit und Trauer über einen gewaltigen Verlust. Dennoch: Ada und die anderen neuen Menschen verstehen den einzigen Erd-Menschen immer weniger (sogar die Sprache geht andere Wege). Erzählt er ihnen gegenüber von der Erde, so zweifeln sie am buchstäblichen Wahrheitsgehalt seiner Worte, halten sie eher für Metaphern: "Onkel, jetzt sag mir aber die Wahrheit." … Aber sie GLAUBEN an ihn - an seine Größe, Güte und Weisheit!
Obwohl er eben NICHT ihre deutlichen Fragen beantwortet: "Ist es richtig, daß ein Mann seine Frau schlägt?", Ist es richtig, daß der Bruder den Bruder für sich arbeiten läßt?", Ist es richtig, wenn einer sagt: Das sind meine Felder, und den anderen nicht erlaubt, dort zu ernten?", "Sage es uns, bevor du fortgehst, denn die Bücher lehren, daß man das nicht tun darf, und doch geschieht es bei uns jeden Tag!" Er versagt! Und weiß es in seinem (selbstmitleidigem) Gram: "Ich war sündig, Herr, und ich bin unglücklich …"
Auch Jan versteht die "Mondkinder" nicht, scheint sich auch nicht wirklich zu bemühen. Er flieht sie eher, verachtet ihre "Degeneration". Diese scheint sich für ihn auch physisch zu manifestieren: Dabei sind die Zwergwüchsigkeit und erheblich verkürzte Lebensdauer nur eine Anpassung an die lunaren Bedingungen.
Nicht zuletzt fällt er (wie Ada) aus der Gesellschaft, weil Tom und Lilli und Rosa eine - mehr oder wenige - in sich geschlossene, jedenfalls von ihm separierte Familie bilden. Und deren Kinder und Kindeskinder wieder ihre. Er aber, Jan der Kinderlose, bleibt draußen.
Schließlich kapituliert Jan vollständig an der Gesellschaft, verlässt sie. Ausgerechnet in dem Moment, wo Entdecker das Meer überquerten und im Süden die durchaus noch lebenden "Anderen" auf dem Mond, die Nachfahren der alten Zivilisation aufspürten. Es deuten sich schwere Auseinandersetzungen an. Jan aber kämpft sich erneut durch die leblose Wüste zum Absturzort. Es gelingt ihm, sein Tagebuch mit einer Kanone Richtung Erde zu schießen. (Der ganze Roman gibt ja vor, diesen Bericht wiederzugeben). Und stirbt in Sehnsucht und Bitterkeit: "Statt Liebe fühlte ich Verachtung für die Unglücklichen [Mondmenschen] und ließ es zu, daß sie mich verehrten, während dir, Herr, allein Ehre gebührt … Ich war sündig und unglücklich … Mein Leben zerbarst in zwei große Hälften - die ein war bestimmt von dem Verlangen nach unbekannten, die andere von der Sehnsucht nach verlorenen Dingen … Und beide brachten sie nur Trauer und unsagbaren Schmerz. Und was ich mir ersehnte, habe ich nicht erreicht, denn ich tat ja nur einen kümmerlichen Schritt hinaus ins All, und ich kenne nicht einmal die Geheimnisse des Ortes, an dem ich mich befinde … Ich bin heute ebenso von Rätseln umgeben, wie vor einem halben Jahrhundert … Und das ist mein ganzes Leben!"
Gerade das, was Stanislaw Lem (obwohl begeisterter jugendlicher Leser des Romans) sehr kritisch sieht, faszinierte mich. Und offensichtlich auch den o.g. Regisseur Andrzej Zulawski: die Schilderung einer zum Scheitern verurteilten Himmelfahrts-Expedition: Ihre Teilnehmer legen lediglich eine Spur ins Ungewisse, bringen aber keine Erkenntnisse zur Erde zurück! (Dies scheint dem Haupt-Protagonisten Jan erst im Verlauf seines Mondlebens bewusst zu werden und ihn dann zu zermürben: Er glaubt nicht an das ewige Leben, kann sein Wissen nicht bewahren, sinnvoll weitergeben, meint also, nicht einmal in den Werken seiner Schüler im Positiven weiterzuleben.)
Die für damalige Verhältnisse sicher ungewöhnlich intensive Schilderung der zwischenmenschlichen Beziehungen, unguter (Gruppen-)Dynamiken: Unterdrückte Sexualität, "Es ist eine der unbestreitbarsten Wahrheiten, daß nichts die Menschen so gegeneinander aufbringt, wie Leid und Langeweile" … Und das anschließende, völlig ungewollte und eigentlich fehlgeschlagene weil (auch geistig) fehlGELEITETE soziologische Experiment eines Neustarts der Menschheit auf dem Mond. Der doch eigentliche eine sterbende Welt ist und schon einmal eine andere Zivilisation untergehen ließ. Alles deutet also auf eine Totgeburt, mindestens aber einen inzustiösen Inkubus hin. Faszinierend ist die Beschreibung des Wachstums der Gemeinde, ihres anfänglichen Rückfalls (dann Wiederaufstiegs) und die Entwicklung einer neuen Religion und neuer Machtverhältnisse. Zwar vieles bemüht psychologisierend begründen wollend, das aber letztlich wenig glaubhaft und doch zu grob.
Dessen ungeachtet: faszinierend und erstaunlich modern. Und insbesondere: kaum verhohlene Religions-Kritik - vor 120 Jahren, ausgerechnet aus dem sonst doch so "erzkatholischen Polen"!
Hier muss gesagt werden, dass der Roman zuletzt in den Siebzigern/Achtzigern mindestens zweimal ins Deutsche übersetzt wurde: in der DDR von Roswitha Buschmann für "Das neue Berlin" und in der BRD von Edda Werfel für suhrkamp. Stichprobenhaft verglich ich einige Passagen: Die DDR-Version erscheint mir stimmiger - vor allem stimmungsreicher, poetischer - ja geschliffener; die BRD-Version hingegen einfallslos-spröder. Allerdings entspricht gerade dies ja vielleicht dem Ansinnen der westdeutschen Herausgeber und auch der Meinung Stanislaw Lems: der ja gerade auch das eventuell störende sprachliche Zeitkolorit als veraltetes Rankwerk bemängelte.
Störte mich allerdings nicht. Trotz aller vermeintlichen Mängel, auch im Charakter des schwächelnden aber gutherzigen Jan, mochte ich eben das Menschliche. Jan sagt: "Der Mensch trägt selbst in der Wüste, selbst auf einem fremden Stern neben anderen, wilden Instinkten auch das Gefühl der Gerechtigkeit und Recht in sich. Ich weiß nicht, ob dies nur eine Folge der Erziehung oder eine angeborene Seelenstruktur ist, aber das eine steht fest: es existiert und meldet sich laut zu Wort, sogar dort, wo es niemanden gibt, der ihm vorwerfen könnte, daß es schweigt."