Don DeLillo: Die Stille. (2020)
Don DeLillo gilt neben Cormack McCarthy und Philipp Roth als bedeutendster zeitgenössischer us-amerikanischer Schriftsteller.
Als bezeichnende Widmung vor Roman-Anfang ein Zitat von Albert Einstein: "Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöckern und Steinen kämpfen."
Angesichts dessen wundern mich die vielen Kritiker-Rezensionen, die nicht müde werden, stets von Stromausfall und Covid19 zu fabulieren. Im Jahre 2019/2020 macht sich DeLillo düstere Gedanken auch über den großen Krieg!
Sein 2020 veröffentlichter Kurzroman gilt Kritikern als prophetisch, weil zufällig zusammentreffend mit der Covid19-Pandemie und ihren Folgen: Lockdown, Bewusstwerdung der Fragilität unserer Zivilisation und ihrer vermeintlichen Errungenschaften usw.
Nahe Zukunft (Februar 2022). Das Ehepaar Kripps ist auf dem Rückflug von Paris ins heimatliche New York. Jim wartet eher den Verlauf der Reise ab. Tessa schreibt unentwegt Details in ihr Tagebuch. Der wiedergegebene Dialog der beiden, erhellt den Zustand ihrer Ehe bzw. ihres gegenseitigen Verstehens: Sie sind sich vertraut, völlig entspannt - vielleicht gar etwas schläfrig - und anscheinend wunschlos zufrieden mit sich und der Welt. Sie plaudern belanglos. Sie können miteinander. Immerhin treiben sie es nach der Reise miteinander in einem Airport-Clo - nach Kritiker Ijoma Mangold eine der entspanntesten Sexszenen der Weltliteratur. - So entspannt empfand ich dies allerdings nicht: Dem vorausgegangen war ein dramatischer Flug mit extremen Luft-Turbulenzen und Elektronik-Ausfall, die fast zum Absturz geführt hätten. Um Haaresbreite entgeht das Paar mit einer Bruchlandung dem Tod. Die beiden sind emotional aufgewühlt. Sex kann da durchaus befriedend, entspannend(!) und beruhigend wirken ... Zudem vergewissern sich die beiden ihrer wirklichen Zusammengehörigkeit.
Anschließend begeben sich Jim und Tessa zu Freunden in Manhattans East Side, um, wie ursprünglich geplant, gemeinsam den Super Bowl Sunday am Fernseher zu genießen: gemütliches Dinieren, gepflegtes Schwadronieren und Philosophieren über mehr oder weniger wichtige Dinge und etwas Emotionen beim jährlichen Finale des American Football. Da ahnen sie schon viel mehr als ihre Freunde über den veränderten Zustand der Welt und den konkreten Übeln, die ihnen allen nun wahrscheinlich bevorstehen.
Die Runde repräsentiert gehobenen Mittelstand. Die emeritierte, leicht sarkastische Physikprofessorin Diane Lucas, ihr sportwetten-begeisterter Mann Max Stenner, Dianes früherer Student Martin Dekker. Und das nun gerade glücklich eingetroffene Paar Kripps. Die Tischgespräche drehen sich um Einsteins Relativitätstheorie, ein riesiges Astro-Teleskop in der chilenischen Atacama, ... auch um Whisky-Sorten.
(Letzteres nicht von ungefähr: siehe späterer Hinweis auf "Finnegarns Wake"!)
Waren schon die starken atmosphärischen Turbulenzen (tatsächlich eher Elektronik-Ausfall) während des Fluges und das Verhalten der Flugsicherheit nach der Landung (offenbar gab es gerade zahlreiche solcher Probleme) reichlich seltsam und beunruhigend, so verstärkt sich das Gefühl über eine eingetretene Katastrophe mit dem Ausfall sämtlicher digitaler Verbindungen: Telefon, Radio, Internet, Fernsehen sowieso. Schließlich auch der Strom. Alles dunkel und erkaltend. Im folgenden versucht die Runde, sich die Situation zu erklären - so die Literaturkritiker. Sie tun dies zunächst halbherzig, fahrig, ungläubig. Es mögen sie tiefere Gedanken und Ängste bewegen. Dies sprechen sie jedoch nicht aus, deuten sie nur in Schlagworten an. Tasten sich verbal vorsichtig heran an das Unfassbare. Um dann zwar in ironischer Weise rhetorisch intellektuell, sich letztlich aber doch nur an der Oberfläche aufzuhalten. Da fällt scheinbar einfach so "Jesus aus Nazareth" ein isolierter Begriff. Dem schließen sich Assoziationen bei diesem "Wort" an usw. Tatsächlich führte die Situation Diane Lucas offensichtlich recht schnell zu (assoziativen) Gedankenblitzen wie "Weltuntergang" und "Jesus". Ohne dass darauf von den anderen eingegangen wird. Ob die fünf Personen wirklich "tief in das Wesen der Zeit, in die Essenz der menschlichen Existenz" eindringen, wie der Klappentext vorgibt, ist mir fraglich.
Max Stenner beispielsweise füllt die Leere zunächst fantasievoll aus: Der TV-Bildschirm bleibt schwarz, dennoch gibt er Kommentare zu einem imaginären Spiel ab! Er erfindet ein Spiel. Schließlich (witziger Weise) sogar noch die Werbeblöcke dazwischen. Es geht also weiter. So kann man es auch machen. Ist das Realitätsverlust bzw. -ignoranz? Oder manchmal nicht auch durchaus sinnvoller, hilfreicher Umgang mit einer erschütternden Realität zum Selbstschutz? Als ein noch nötiger Akt, der zukünftig wohl altmodisch analog anmuten wird: Denn künftig könnten auch hier "neurale Interfaces und Enhancements" helfen und eine (tröstliche) künstliche Umwelt "directly into the Brain" einspielen ... Das wird hier sogar einmal so angedeutet.
Angedeutete Ängste und Unruhe. Angedeutete, meist ironisch ausweichende, abgemilderte Antworten.
Immer wieder findet sich im Text die fordernde Phrase "Worum geht es?" oder "Darum geht es."
Ja, worum geht es eigentlich?
Nicht selten um etwas anderes, als es zunächst angeblich eindeutige Worte auszudrücken scheinen.
Fünf Personen, ja Freunde, sie kennen sich eigentlich, sie wären jetzt aufeinander angewiesen, sie sind ratlos, sie sind zusammen - aber sie bleiben in ihren jeweiligen Denk-Universen letztlich doch allein: "Waren sie einander ein Rätsel, wie eng sie auch immer miteinander zu tun hatten, jede Person so selbstverständlich abgekapselt, dass sich er oder sie einer endgültigen Festlegung, einer festen Einschätzung durch die anderen Anwesenden entzog."
Und sie starren in einen schwarzen Bildschirm!
Als "in unheimlicher Weise" vorweggenommene Replik über Covid19 sehe ich das Stück nicht. Der Anlass ist ein anderer, die Ursache immerhin angedeutet aber nicht aufgeklärt. Es scheint jedenfalls über einen "folgenreichen New Yorker Stromausfall" hinauszugehen. Cyberkrieg? Sonneneruptionen?
Die Instabilität unserer Zivilisation wird deutlich. Unsere beängstigende, totale Abhängigkeit von Strom, Elektronik und digitaler Technik. Deren Ausfall nahezu sofort zum Ausnahmefall und dann schon zum Kollaps führt. Da zerplatzt dann auch sehr schnell die Sicherheit vorgaukelnde, mehr oder meist weniger verdiente Wohlstandsblase des westlichen Wohlstands-Bildungs-Bürgertums.
Unabhängig vom Eintreten eines "Ernstfalls" bedauert der Autor wohl auch ganz allgemein die Digitalisierung unserer Welt (wie soll das übrigens gehen?! Die Welt wird nicht digitalisiert. Wir schaffen uns nur ein abbildhafte, vereinfachte Kopie der Welt - für unsere ebenfalls vereinfachte Wahrnehmung): Als Tessa die Antwort auf eine Frage einfällt, sinniert sie kurz und sehr treffend: "Das fand sie befriedigend. Kam aus dem Nirgendwo. Vom Nirgendwo ist fast nichts mehr übrig. Wenn eine fehlende Information ohne digitale Hilfe auftaucht, verkündet jeder das mit einem Blick in die weite Ferne, in das jenseits des Gewussten und Verlorenen."
Ja, so empfinde ich das auch!
Mit den Personen wurde ich nicht ganz warm: Zu kurz vielleicht der Roman. Allerdings vermögen andere Autoren durchaus mit wenigen Sätzen komplexe Charaktere zu skizzieren. Das gelänge auch DeLillo, wird ihm doch auch hier das Loblied "makelloser Erzählökonomie" (Dorothea Westphal) gesungen. Ich unterstelle, dass dies DeLillo durchaus draufhat, es aber hier bewusst bei vielleicht schablonenhaften Charakteren belässt. Also liegt sein Interesse woanders. Dass man mit diesen Romanfiguren dieses Milieus nicht warm und innig wird, kann also Kalkül des Autors sein: Deren Umgang mit der Situation mag "kühle Bestandaufnahme" über das Ticken eines eher kühlen, vielleicht auch desillusionierten, gesättigten und wohl-situierten Menschenschlags sein. Zudem zeigt der Text ja auch nur eine Momentaufnahme während des Anfangs einer Katastrophe.
Einmal mehr bei DeLillo: die Darstellung der Abhängigkeit der Menschen von äußeren Umständen. Das trifft Individuen bzw. westliche Menschen, die soooo gern total individuell und aus freiem Willen selbst entscheidend zu sein glauben. Sie bleiben im großen Stil manipulierbar.
Vergleiche hier auch seinen Roman "Sieben Sekunden".
Die Katastrophe passiert nicht spektakulär. Es ist schlicht ein wohl globaler Shut-down. Da wecken Erinnerungen an mit Bombenweste herumlaufende Terroristen fast schon nostalgische Erinnerungen!
Globale Stille. Schreckliche (digitale) Stille. "Taumelnde Leere." Auf dem "dritten Planeten unseres Sonnensystems, im Reich des sterblichen Daseins."
Derweil füllen sich die Straßen mit ziellos herumirrenden, weil internet- und handy-losen Menschenmassen. Mehr wird nicht über die unmittelbaren Auswirkungen auf die Gesellschaft gesagt.
Derweil wird in der Wohnung der fünf Freunde gesprochen. Vor allem Martin stößt Kaskaden von Schlagwörtern aus: "digitales Wettrüsten", "Datenpanne", "Kryptowährung", "Drohnen", "dunkle Energie", "Phantomwellen" usw. Den anderen reicht es bald und sie stellen fest, dass sie - natürlich - "zombifiziert und verspatzenhirnt" wurden. Dennoch wagen sie nicht, aus dem Fenster auf die Straßen da unten zu schauen ...
Immerhin reflektiert Diane ehrlich und erinnert sich bezeichnender Weise an "Finnegarns Wake". Mehr als eine verrätselte Zeile daraus wird dem Leser jedoch nicht geboten: "Eh der Stockson auf die Düre klotzt" ... James Jouyce rätselhaftes Werk über eine irische Ballade (betrunkener Mann Finnegarn fällt von Leiter, stirbt und ersteht wieder auf, als eine Whisky-Flasche auf seinen Sarg fällt) gilt als Metapher auf Aufstieg und Fall der Menschheit. Einige Requisiten finden wir auch in diesem Roman.
Übrigens lebt ja Finnegarn wieder auf. Vielleicht auch die Menschheit, deren Zivilisation gerade neu geordnet wird, wie die Freunde an einer Stelle orakeln.
Spannender wäre es gewesen darüber zu schreiben (so Rezensentin Susan Vahabzadeh), "was vom Menschen übrig bleibt, wenn die virtuelle Realität wegfällt". Aber darüber schreibt DeLillo ja: Leere und unsagbare Zustände - über die somit eben nichts Konkretes gesagt wird: "denn die aktuelle Lage macht uns klar, dass es nichts zu sagen gibt, außer was uns spontan in den Kopf kommt, und nachher wissen wir das sowieso alle nicht."
Den Roman schließen kurze Kapitel ab, in denen die Gedanken jedes einzelnen der Fünf ausgebreitet werden.
So fragt sich Tessa in ihren geliebten Tagebüchern, ob es natürlich sei, in solch einer Zeit in philosophischen Begriffen zu denken? Sollte man nicht praktisch sein: Essen, Obdach, Freunde, Toilette ..., Fühlen, Beißen, Kauen? "Der Körper hat seinen eigenen Sinn."
Martin wird weiterhin von faszinierenden Begriffen der modernen Zivilisation und dem Abbild ihres Symbols - Albert Einstein - "umzingelt". Er begreift aber plötzlich, dass er - würde er Einstein treffen - mit ihm viel lieber still schweigend über den Campus von Princeton schlendern würde. In beider Erkenntnis "Die Welt ist alles, das Individuum nichts."