Sören Hornung: Die letzte Geschichte der Menschheit. (2022)

 

Es handelt sich um einen dramaturgischen Text. Uraufgeführt wurde das Theaterstück im Sommer 2022 in Wernigerode, Anfang 2023 dann auch am Schauspiel Frankfurt: inszeniert von Leon Bornemann, gespielt von Tanja Merlin Graf. Ich sahe es in der "Box" und besorgte mir anschließend den Text.

 

Es handelt sich um einen ca. einstündigen Monolog der KI KARL aus dem Jahr 5.144 - in Frankfurt witzigerweise verkörpert von einer jungen Frau. Übertrieben ausgestattet als niedliches, sympathisches Weibchen mit Zöpfchen, großen spitzen Brüsten, rosa Röckchen, roten Hackenschuhen und anmutigem Köpfleinwippen. Etwas einfältige Sprache, jedoch zum Liebhaben. Und das ist auch das Ziel: Designt, um Sympathie und freundliche Gefühle wecken. Diese äußere Erscheinung fand die KI also bezeichnenderweise nach Sichtung des gesamten YouTube-Contents zur Erfüllung von KARLs Aufgabe als besonders Erfolg versprechend. Und die Aufgabe ist: der Rettung der Menschheit vor dem Untergang!

 

YouTube erschien den menschlichen Schöpfern des ursprünglichen Quellcodes offensichtlich als geeignetes Trainingsprogramm für die rettende Künstliche Intelligenz. Ging leider daneben: Jahrtausendelang sah sich das Programm alle - immer wieder neu nachströmenden - YouTube-Videos an. Zeit- und gedanken-verloren in der Sucht nach immer weiteren, aber irgendwie auch immer gleichen Videos. Nicht nur Menschen tappen in diese Falle. Und als die KI mit allen Filmchen und Bildchen und Liedchen durch war und immer noch nichts begriffen hatte (wo ist das Problem?) und nicht wusste, wie sie ihre Aufgabe erfüllen solle, schaute sie gleich nochmal alle Videos durch.

 

Zwischenzeitlich waren dann nicht nur alle Menschen weg. Immer mal wieder fällt ein Wörtchen über Feuer, Wurstkäfer, mutierte Vögel usw. Alles im Eimer! Zumindest auf der Frankfurter Bühne - nur ein paar blaue, unecht wirkende Requisiten einer untergangenen Welt: Fernseher, Drehstuhl, Gummibaum ...

 

Nun, da das letzte Video (es geht um ein Frettchen als süßes Haustier) schon vor sehr langer Zeit hochgeladen wurde, fühlt sich KARL sehr einsam und realisiert, dass es seinen Job vergeigt hat. Inzwischen wirkt KARL ziemlich menschlich, mit ihren Gefühlen und Ängsten - die sie doch eigentlich gar nicht haben kann, als technisches, als künstliches Konstrukt. Sie baut eine abenteuerliche Zeitmaschine oder zumindest eine Art Zeittunnel, um zu uns in die Vergangenheit zu reisen; Kontakt mit uns aufzunehmen und uns von der dämlichen Zerstörung unseres Lebensraumes und unserer Selbstausrottung abzuhalten. Dafür ist effektiv und effizient zu werben, das muss Spaß machen - sonst wird das nichts! Und nach dieser Taktik geht also KARL vor: zum Mitsingen und Mitskandieren animieren, Mitleid erheischende Geschichten erzählen, sentimental-elegische Schwärmereien über die Unendlichkeit des Universums - zwischendurch immer wieder ihren ziemlich schweigsamen Freund ULF (ein Handy!) fragend, ob es denn nun zuhause in der Zukunft besser aussieht. Im Theatertext ist dann - trotz aller Versuche - nur von ewigen Flammen und Schweigen die Rede. Keine Änderung. In der Frankfurter Inszenierung sieht man - passenderweise - nur einen BlueScreen ... bis zum Schluss.

 

Der/die verzweifelte, etwas unbeholfen und trottelig wirkende KARL versucht tapfer weiter, die Menschen von der Sinnhaftigkeit des Lebens zu überzeugen. Und weiterhin kann KARL nichts mit diesen Gefühlen anfangen, die er/sie doch gar nicht haben darf!

 

Dabei braucht auch eine KI eine energetische Basis, also Strom. Den aber gibt es auch nicht mehr. Wieso ist dann KARL noch da. Wer spricht mit dem Leser bzw. dem Theaterpublikum (wirklich)?

 

Ist es eine Metapher auf das verlorene echte Leben einer an YouTube, Instagram und Handy verloren gegangene menschliche Existenz? Ein Menschenkind, dass sein Leben in dem seltsamen Parallelweltchen von Filmschnipseln verrauschen lässt (Katzenvideos, Frettchenvideos, großbusige und grell überschminkte Katy Perry-Puppen)? Bis die kurze Zeit der gewährten Existenz vorbei ist und die Einsamkeit (vor dem Tode?) erkannt wird. Zurückentwickelt zu einem daueraufgeregten, einem sozial unerfahrenen und unbeholfenen Kindchen, dass auch mit Emotionen nicht umzugehen vermag?

Oder soll es wirklich ein Android mit KI sein? So um gleich mehrere Ecken gedacht: "Eine KI spielt einen Androiden nach, wie ihn sich Menschen ausgedacht haben." (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau 21.12.2022)

 

Auch nicht sicher: Wünscht sich die "zu Bewusstsein" gekommene KARL wirklich die Rettung der Menschheit um ihrer selbst willen? Oder nur eine Wiederaufnahme des "Video-Konsumierens"?! Um einfach weiterzumachen, aber eben nicht wirklich etwas zu ändern, was Menschen und die Welt rettet?

 

KARL hat keinen Erfolg. Zum Schluss sinniert er/sie über die Geschichte von der (urzeitlichen) Silke und dem großen Ritzelfritz. Der Ritzelfritz ist eine der Inkarnationen des "großen Spagetti-Monsters" oder anderen Gott-Erfindungen. Wahrscheinlich ziemlich blasphemisch in den Augen religiöser Menschen. KARL tut dies als pathetisches Overacting - aber durchaus nicht in verächtlicher Absicht.

 

In der Frankfurter Inszenierung legt KARL schließlich alle "Prothesen" ab (Kunst-Brüste, Stöckelschühchen, Röckchen) und ist dann ganz Mensch. (Steht so nicht im Text.) Und erzählt dann, ganz nah am Zuschauer sitzend, mit leiserer, nachdenklich-trauriger Stimme einige scheinbar ganz banale Beobachtungs-Fragmente: z.B. über den ersten Kuss von Arda und Pablo und den so schönen Leberfleck über Pablos rechtem Auge, oder von dem plötzlichen Sterben Steffis, nachdem sie einen Kaffee auf dem Bürgersteig getrunken hat: Fällt um, einfach so. Und mit schnell schwindendem Bewusstsein noch wahrnimmt, wie ein Kleinkind an der Ampel über irgendetwas lacht. Über etwas, was ihr entgangen ist.

"Aber von alldem habe ich nichts erzählt. Ich hätte es machen können. Hab ich aber nicht. Ich habe nur mit mir selbst geredet." Bestürzte Zustimmung. Am Schluss hat uns der Mensch im KARL doch noch erwischt? Aber die Bühne der Box versinkt sofort im Schwarz. Zu spät?

Ein schmerzhafteres, beklemmenderes, beunruhigenderes Ende als im originalen Text.

(Dort tut sich ganz zum Schluss doch noch irgendetwas auf dem Bildschirm der Zukunft ...)

 

Lesens- und v.a. sehenswert.