Stefan aus dem Siepen: Der Riese. (2014)
Es ist der dritte "aus dem Siepen", den ich in nur einem Monat las. An den anderen beiden ("Luftschiff", "Das Seil") faszinierte mich das Gedankenexperiment, die Parabel, aber durchaus auch die schnörkellose Sprache. Dennoch hatten sie etwas Künstliches an sich, wirklich WARM wurde ich nicht mit den beiden Romanen. Das war hier anders: Erstmals berührte mich emotional eine Geschichte von aus dem Siepen. Denn es geht schlicht mehr um den Menschen, die Person. Dessen "Schicksal" und "Entscheidung zur Selbstbestimmtheit" wird hier in warmherzigem schildert, mit feinem melancholischen Humor. Die Menschen sind hier weniger Puppen in einer konstruierten Versuchsanordnung, als in den zuvor gelesenen Erzählungen.
Es geht nach Baden-Württemberg, ins Städtchen Nagoldhausen am Neckar. Tilman Wörzinger wächst mit seiner Schwester Simone in einer "rustikalen", spießig-kleinbürgerlichen Handwerkerfamilie auf. Sein grober Vater betreibt eine mehr schlecht als recht gehende Dachdecker-Firma. Die Mutter ist Hausfrau. Schon früh ist klar, dass er der Familientradition zu folgen hat und die Firma übernehmen soll. Fremdbestimmt und ohne selbstständiges Denken lässt er es zu.
Auf höhere Bildung am Gymnasium (für die er geeignet ist), auf musikalisch-musische Bildung (für die er als Pianist und Musik-Gourmet auffälliges Talent zeigt), auf kultivierte Umgangsformen (die er aufgrund seines freundlichen, aufmerksamen Wesens fast instinktiv annimmt) legen weder die Eltern, aber auch die restliche Umgebung keinerlei Wert. Er wird vorzeitig aus der Schule genommen: Er nimmt es unreflektiert ohne Aufbegehren hin - als normalen Vorgang. Ein Durchschnittstyp, der einen durchschnittlichen Lebensweg gehen soll und es auch tun wird.
Wenn da nicht das Schicksal zuschlagen würde: Tilman wächst und wächst und wächst. Über alle Maßen.
Bereits als fünfzehnjähriger Zwei-Meter-Junge ist er auffällig, aber noch im aushaltbaren Rahmen des für Provinz so wichtigen "Normalen". Immerhin eine achtenswerte Anekdote. Aber bald schon wird er - natürlich unschuldig - den Rahmen sprengen und regelrecht zum Aussätzigen! Er leidet an einer unheilbaren Erkrankung der Hypophyse, die ihre Überaktivität nicht einstellen wird, sodass er immer weiter wächst: Am Ende seines kurzen, gut dreißigjährigen Lebens wird er auf die drei Meter gehen - der größte Mensch des Planeten!
Zunächst schmücken sich die Leute mit ihm. Aber am normalen Leben kann er bald nicht mehr teilnehmen: der so immens wichtige Auto-Führerschein bleibt ihm versagt, da er in kein Auto passt bzw. die zu klein ausgelegten Armaturen und Pedale nicht bedienen kann. Er wird verlacht und als unfähig, als unvollkommen verachtet. Dies ist auch der äußere, banale Hauptgrund, warum er von seiner ersten Freundin Franzi verlassen wird. Sie wünscht sich schon einen vorzeigbaren "Riesen". Aber einen, der dann doch irgendwie durchschnittlich sein soll und ihr all die kleinstbürgerlichen Attribute verleihen soll, derer sie so bedarf. Eines der wichtigsten ist eben, sich vom Ehemann im Auto herumfahren zu lassen - und nicht gar zu sehr aufzufallen. Aber schon ein wenig überragen. Aber nicht so viel ...! Er wird sich geradezu schuldig fühlen, sie dieses Alltags-Vergnügens beraubt zu haben. "Äußerliche Dinge spielten für sie nun einmal eine gewichtige Rolle, das verstand sich von selbst; auch besaß sie ein fein entwickeltes Gespür für alles, was üblich, verbreitet, allerweltshaft war, und fühlte sich nirgendwo geborgener als im Schoß der Durchschnittlichkeit." Er dagegen ist - zudem ohne eigenes Zutun - "Abweichler"! Auch - und gerade jetzt in 2022 wieder - selbst nach 70 Jahren "massenmedial dauerverabreichter Democracy-Impfung" eines der schwerwiegendsten Makel, der unverzeihlichsten Sünden in Deutschland. Vielleicht, weil der hartnäckigen "Grundkrankheit" nur mühsam beizukommen ist. Oder weil der angeblich exquisite Impfstoff nur eine Placebo-Plörre ist ...
Es folgt die Ausmusterung Tilmans vom Wehrdienst. Andere freut es, er fühlt sich gedemütigt: eben "aus-ge-mustert". Nicht dem geforderten Muster (für Soldaten-Funktionen) zu entsprechen, wird man - in unserer Gesellschaft - erst später geradezu als Auszeichnung ansehen. Dabei erinnert ihn der nüchterne Arzt durchaus und richtig daran "Auf den Kopf kommt es gar nicht an. Der ganze Rest ist zu groß".
Auch seiner vom Vater zugedachten Berufung zum Dachdecker kann er nicht nachkommen: Er ist einfach zu groß, um sich sicher auf dem Dach sicher bewegen zu können. Selbst nach einem Beinahe-Absturz versucht ihn das jähzornige Familienoberhaupt in den Beruf zu zwingen und schmäht ihn als Versager.
Tilman stößt allerorten auf Ablehnung, Verachtung und Spott. Er muss sich neu erfinden und tut erneut etwas, worauf er eigentlich keine Lust hat, was ihm aber als pragmatisch sinnvoll nahegelegt wird. Wieder macht er sich also vom Ideen-Horizont anderer abhängig, die für ihn sein Leben planen. Und unter dem Nagoldshausen-Horizont eingeklemmt fällt ihnen nur die Buchhaltung ein. Als tatsächlich fähiger Buchhalter wird er in der Firma eines Freundes seines Vaters angestellt, ohne dass jedoch dieser dessen Fähigkeiten begreift bzw. erkennt. Immerhin ist sein Chef ein gutmütiger Mensch. Tilman erhält ausreichend Raum und Möglichkeiten, seinen Neigungen nachzugehen: Er kauft zahllose Bücher und liest systematisch und ausgewählte(!) Literatur, hört Musik (und nicht nur Popmusik), erwirbt ein Klavier, auf dem er rasche Fortschritte erreicht.
In der Kunst lebt er ein anderes Leben. So gelingt es ihm "sich schadlos zu halten, Trost an den schönen und gesteigerten Nachahmungen zu finden." - Ja, genauso ist es wohl ... Und noch wundervollere Überlegungen finden sich - z.B. in Bezug zu seinem Verhältnis zur Musik: "... vielleicht war es dies: Die Musik existierte jenseits der körperlichen Welt. Sie war eine Form der Kunst, die sich dem Greifbaren entzog, ganz im Geistigen und Unsichtbaren beheimatet war. Der Unterschied zwischen Groß und Klein, der über ihn eine so gebieterische und verhängnisvolle Macht ausübte, verlor in ihrer Sphäre allen Sinn; wenn er sich ans Klavier setzte und zu spielen begann, durchschritt er Räume, die weder Länge noch Breite noch Höhe besaßen, in denen es ohne Bedeutung war, ob jemand zu den Riesen oder den Zwergen zählte."
... Immer wieder geht es um das körperliche Äußere und den immateriellen, inneren Reichtum, die "andere", körperlose Welt. Tilman ist ein bewusster Träumer, er muss flüchten und findet ja ein Refugium. Dessen ungeachtet verneint und verachtet er nicht die reale, körperliche Welt. Hier bleibt er erfreulicherweise Realist, ja bodenständig.
Aber immerhin: "Die Eitelkeit war ihm abhanden gekommen; den Wunsch, nicht aufzufallen und so wie alle zu sein, hatte er in sich abgeschafft." - Einen solchen Gedanken hatte ich zuvor noch nicht gedacht, dass das Bedürfnis nach Durchschnittlichkeit "Eitelkeit" sei!
Obwohl er sich von der Mehrheit der Mitmenschen abgelehnt fühlt und bestenfalls als kurioses, unnormales Monster beglotzt wird, demonstrieren die vergleichsweise liberalsten "eine übertriebene Souveränität ..., die Tilman mit herausgekehrter Weltläufigkeit zu verstehen gaben, dass sie seiner Größe keine Bedeutung beimaßen ..., doch ihre Natürlichkeit war allzu laienhaft gespielt und mutete wie ein Almosen an, das sie ihm von oben herab darbrachten." Selten habe ich es so treffend formuliert gefunden wie hier: Herablassende Arroganz, die sich jedoch narzistisch als besonders liberales "Gutmenschentum" tarnt. Innerlich hohl und unecht und sich auch keiner echten Bewährung aussetzend.
Sorry!
Tilmann wächst weiter, nach dem Tode seines Arbeitgebers verliert er auch diesen Job unverschuldet und steht erneut vor dem Nichts. Das Geld wird knapp. Er vermag nicht mehr, sein ohnehin bescheidenes aber halbwegs befriedigendes Leben zu finanzieren. Seine Schwester, die einen Versicherungsvertreter Klaus-Dieter geheiratet hatte und einen kleinen "Aufstieg" vor sich sieht (Eigenheim, Gran Canaria-Urlaub und Cabriolet-Transport), wird ihm in erniedrigender Weise als "erfolgreiches Vorbild" präsentiert. Irgendein substanzieller Beitrag, den sie zu diesem atemberaubenden "Erfolg" geleistet haben soll, wird nicht berichtet. Gedemütigt zieht er verarmt in das Kinderzimmer zurück: die Tapeten seiner Kindheit, viel zu kleine Möbel, stets in gebückter Haltung, ständigen Hänseleien seines inzw. auch unternehmerisch gescheiterten Vaters ausgesetzt. Geliebt nur von seiner Mutter, die sich nun als Verkäuferin in einer Fleischerei verdingen muss. Für den mickrigen Westdeutschen aus der westdeutschen Kleinstadt geradezu eine entehrende Schande. (Auch dafür "Sorry"! Tut aber gut ... ha, ha.) Auch dies wird Tilmann vorgehalten.
Er ist schuldlos gescheitert, ohne sich wirklich bewähren zu dürfen. Ein unnützer, ausgemusterter Mensch. Warum eigentlich?! Verlassen und ungeliebt, weil er in keinem blöden Pkw Platz fand, weil er fürs hochgeschätzte Handwerk zu groß ist, weil er - höflich - fremdartiges Reden kauderwelscht (will er sich über uns lustig machen?!) und deshalb "zwangsläufig" ein Versager ist. Weil er nicht als Kanonenfutter Soldat spielen darf (das tut doch jeder normale Trottel!). Nicht mal fürs Töten und Getötetwerden in Uniform zu gebrauchen! Wie furchtbar! Und dümmliche, herrische Vorgesetzte erklären kraft ihrer Macht (aber nicht ihres Verstandes) und unbegründet, er könne keine Zahlen in ein Buch eintragen.
Alles unwesentliche Dinge, worauf man doch pfeifen könnte, oder? Aber wohl nicht "die Masse" ...
Derweil lässt er sich nicht wirklich gehen: Er kultiviert sich beständig weiter. Er hat sein Refugium außerhalb dieser für ihn trostlosen Welt.
Die Lage eskaliert, als auch die Schwester scheitert: Noch während ihrer Schwangerschaft wird ihr junger Ehemann verhaftet und verurteilt: Unterschlagung, Urkundenfälschung usw. in großem Stil und endlose Schulden. Simone wird nicht auf eigene Beine kommen, auch sie zieht zurück ins Haus, verhärmt und verbittert. Sie zeigt keinerlei Fähigkeiten für ein eigenständiges Leben, eine eigenständige Job-Wahl oder sich in anderer Weise zu beschäftigen, selbstständig zu leben. Der einzige Plan war offensichtlich, geheiratet zu werden. Und das ist schon als hoher Verdienst anzusehen ...
Tilmann nimmt unter diesen Umständen - zunächst angewidert - das Angebot der Provinz-Journaille an, ihn zu interviewen und über ihn zu berichten: Der Start zu einer neuen Karriere als "Riese von Nagoldshausen". Immer mehr Zeitschriften, Fernsehen & Co. berichten über ihn. Schließlich wächst er zum weltgrößten Menschen. Zunächst geht es ihm noch körperlich gut ...
Er muss sich medial vermarkten, um die Familie und sich zu ernähren. Er tut es auch, da er kein besseres Mittel kennt, seine Einsamkeit schätzen zu lernen, als sie (zeitweise) aufzugeben! Und er findet er darüber auch eine Rolle für sich: Er stiftet Nutzen und steht seinen Mann. Als Jahrmarktsfigur erfüllt er immerhin eine Funktion. Und dies tut er sehr bewusst. Manchmal ist es besser, "eine Rolle wie die [s]eine zu spielen, als überhaupt nicht auf der Bühne zu stehen."
Und plötzlich erfährt er zunehmenden Respekt! Inzwischen aber weiß er, worauf sich diese Anerkennung gründet. Zu lange hat er seelisch gelitten und doch sein freundliches, beobachtend-aufmerksames Wesen bewahrt, als dass er nicht erkennen würde, dass er diese Achtung nur aufgrund seiner zufälligen Größe, aufgrund seiner Monströsität erfährt, die doch nur Folge einer bitteren, zufälligen Krankheit ist. Hochachtung wird im nicht zuteil aufgrund seiner Leistungen, seines Talents - deren Nachgehen ihm nach wie vor eher vorenthalten werden. Zumindest: Das Geld fließt (eigentlich bittererweise mehr als der Vater mit körperlicher Schinderei je erreichen konnte). Tilmann kann sich und die Familie finanzieren, was ihm die Achtung seines Vaters einbringt - und dessen Gier entfacht, ihm dessen Blick über vermeintliche "Bedeutsamkeit" vernebelt.
Tilmann weiß kopfschüttelnd: "Er hatte ja nichts geleistet, was der Rede wert war, niemand konnte behaupten, dass er sich um Nagoldhausen verdient gemacht habe; die Prominenz, die er genoss, war nichtig und gründete sich auf nichts. Wie mochte es, wenn dies ausreichend war, um hierher [zum bürgermeisterlichen Empfang für die Stadt-Notablen: "wohlgenährt und anfechtungsfrei"] eingeladen zu werden, ja, sogar zu der am meisten beachteten Figur im ganzen Saal aufzusteigen, um die Verdienste der übrigen Anwesenden bestellt sein?" - Ja: große Fragen ..., deren überlegte Antworten sicher sehr unterschiedlich ausfallen dürften.
Das alles gibt ihm zu denken. So funktioniert also unsere Gesellschaft! Dennoch erhält er sich seine warmherzige Nachsichtigkeit und lässt es geschehen. Inzwischen hat er sich selbst zu weit aus den Untiefen heraus gebildet, ist auch in seinem Geist über seine Umgebung weit hinausgewachsen, als dass er darüber verbittern würde.
Er sieht die geistige Bedürfnislosigkeit der meisten, ihre trübes Bedürfnis und Vergnügen, sich am Unglück anderer aufzubauen, nach billigem Spaß. Sich an seiner "Abweichung" zu laben, verschafft ihnen glückliche Momente: "Zufrieden dürfen sie sich sagen, ... dass sie um keine Handbreit aus der Herde der Menschen herausragten, ein verschontes Leben unter Verschonten führten".
Glück gehabt, sozusagen!
Nicht nur für die Boulevard-Presse ist er der beliebte, sanfte Held. Noch haarsträubender gibt sich die "Elite": Er ist auch Forschungsobjekt von Soziologen und Medienwissenschaftlern, die selbstverliebt in ihren Diskursen und Pamphleten schwadronieren - und weit am Relevanten vorbeidriften - bis zur völligen Lächerlichkeit. Sie erscheinen noch "schlimmer" als der Mainstream-Bürger, weil sie mehr Verantwortung übernehmen sollten ... Tilman bedient auch sie, auch deren Triebe und Befindlichkeiten, spielt mit. Während eines Besuchs in der Universität Heidelberg lernt er die zornige Nina kennen und lieben. Sie ist fasziniert von ihm, interessiert sich wirklich für ihn als Menschen, für sein Innenleben. Sie sind sich ebenbürtig. Und so kommen und bleiben sie zusammen. Bis zu Tilmanns Ende.
Er ist dankbar für dieses Glück, sowohl selbstbewusst, dabei aber auch bescheiden ehrlich: Manchmal fühlt er sich wie in "einem Märchen, in dem eine Prinzessin einen Frosch küsste, der nichts als ein gewöhnlicher Frosch war."
Allen Umständen und Widerständen aus der Simpel-Umwelt zum Trotz, ja gegen sein körperliches "Schicksal", gelang es Tilman, sich aus der Fremdbestimmtheit zu erheben, seine innere Freiheit und ein Bewusstsein zu erlangen. Und dennoch übrigens den Menschen mit Nachsicht zu begegnen. Trotz aller Probleme, ja Feindschaft, vollbringt er es, ein würdevolles, kultiviertes, bewusstes, geistig-seelisch befriedigendes Leben zu führen - das ihm schließlich doch noch mit echtem Liebes-Glück beschenkt.
Denn - natürlich ist es hier Metaphorik - es ist ja nicht sein Wuchs, der ihn über die Durchschnittlichkeit hinaushob. Was den allermeisten Zeitgenossen jedoch leider nachhaltig verborgen bleibt.
Immer wieder hört und liest man von Menschen, die wohl gerade wegen ihres tragischen Schicksals, wegen Krankheiten, drohendem frühen Tod über sich und viele andere hinauswachsen und ein kurzes, aber erfülltes, bewusstes Leben führen. Man lerne besser von ihnen, als von den "Normalen".
"Hüte dich vor den Nicht-Gezeichneten" - dies nachdenklich stimmende Zitat von Lichtenberg ist dem Roman vorangestellt.
Rechtzeitig gelang es Tilman, in sich hineinzuhorchen und dort eine innere Heimat zu finden, eine "sanfte Stille, die sich gegen den Lärm um ihn her behauptete und ihm das Gefühl eingab, nirgendwo so gut aufgehoben zu sein wie in seinem Innern. Er trug ein unsichtbares Refugium durchs Dasein ..."
Aber seine Entwicklung verdankt sich nicht allein seinem Willen. Die (zunächst kleinstädtische) Welt rückte ja ZUERST von ihm ab. Denn lange Zeit ließ er sich mittreiben. Erst mit ihrer Abwendung von ihm gewinnt auch er Distanz zu dieser Welt. Wenn er etwas dem Dachdecker-Beruf abgewinnen konnte, so war es das Sitzen auf dem Dach während der Pause - abseits von den Kollegen, mit Blick über die Dächer, über das städtische Treiben unter ihm hinweg - entrückt.
Stets daheim geblieben, war er doch herumgekommen: "Die inneren Ausfahrten waren die reicheren. Sie führten zu Horizonten, die größere Entdeckungen verhießen, und man kehrte beladener von ihnen zurück. ... Körperlich lebte er auf einer winzigen Insel, geistig durchquerte er die Welt."
Faszinierend in diesem Zusammenhang auch sein Fazit, sein philosophisches Verständnis von Büchern: "zwar ein handgreiflicher Besitz ... zugleich aber über die Sphäre des Materiellen hinausrag[end], nur mit ihrem kleinsten und unbedeutendsten Teil dem Gegenständlichen verhaftet. ... Der Raum, hier wurde er zur Zeit, die Zeit, hier wurde sie zum Raum."
Er sagt sich - und hier kehren wir zurück zum Spannungsverhältnis zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, deren - ja doch! - gegenseitigen Bedingtheit und Verschränktheit: Im Grunde hat doch das bittere Sein seinem Geist eine neue Wendung gegeben, diesen befördert. Es ist nicht sein "Übermenschentum", sein genialer Wille. Sein "Streben nach Höhe, nach einem halbwegs reichen Innenleben, ist ja aus einer Not heraus geboren. Es trägt den Stempel des Unfreiwilligen, des Angestrengten, und das ist ein Schönheitsfehler. Es klebt mir an, dass ich alles, was mir jemals gelungen ist, meinem leidenden Körper verdanke ... Ich bin ein Emporkömmling des Unglücks." Diese humorige bescheidene Selbsterkenntnis würde ich einer Person wie Tilman fast am höchsten anrechnen. Er behält Bodenhaftung!
"Das Wachstum hat mich gezwungen, mir selbst größere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die meisten Dinge, mit denen andere sich beschäftigen, sind mir zu meinem Leidwesen abhanden gekommen. Ich sah mich einer Leere gegenüber, die ich, wenn ich nicht verkümmern wollte, füllen musste. Und da kam mir der Einfall, sie mit mir selbst zu füllen! ... Ich habe meine Existenz von außen nach innen verlegt. Wenn man gezwungen ist, ein Leben am Rande zu führen, ein Leben ohne bürgerliche Ziele und Ambitionen, gewinnt man Muße, sich seinem inneren Menschen zu widmen. Man kann ... darangehen, dem eigenen Charakter eine erträgliche Form zu geben, seinen Geist auf ein mehr oder weniger passables Niveau zu heben ..."
Es ist der typische gewählte, geschliffene Stil des Autors aus dem Siepen. Die Reflexionen sind wunderbar und ergiebig. Der Stil mag dem einen oder anderen unnatürlich gestelzt erscheinen: Sprechen so normale Menschen??? Wohl nicht. Die normalen durchschnittlichen - wie ich einer bin - wohl nicht.