Martina Hefter: Hey Guten Morgen, wie geht es dir? (2024)

Der kurze Roman erhielt 2024 den Deutschen Buchpreis. Ich hatte das Vergnügen, die Autorin Anfang Oktober im Schauspiel Frankfurt zu erleben, wo sie und ihr Roman als einer von sechs Nominierungen der Shortlist zum Buchpreis vorgestellt wurden: Hefter las selbst einige Abschnitte aus dem Roman. Alf Mentzer, Literatur-Redakteur bei hr2, interviewte sie.

 

Vordergründig geht es um Love-Scamming, also Internetbetrug. Das ist eine moderne, digitale Form des Heiratsschwindels  –Personen oder Banden, die Fake-Profile auf Socialmedia-Plattformen wie Instagram oder Single-Börsen erzeugen und gegenüber gefundenen Opfern Verliebtheit vorgaukeln. Ziel: finanzielle Zuwendungen erschleichen. Nicht selten geht es dabei um riesige Summen, die die vereinsamten und verblendeten Opfer, meist ältere Damen oder Herren jenseits der Fünfzig, um ihr gesamtes Erspartes bringen oder sogar in den völligen Ruin treiben.

 

Juno Isabella Flock, eine Tanz-Performance-Künstlerin, stammt aus dem bayerischen schwäbischen Allgäu und ist Mitte 50. Sie schlägt sich so leidlich durch mit einem künstlerischen Business, das finanziell wirklich nicht sehr ertragreich ist, ein ständiger Kampf um Fördermittel-Anträge, Aufführungsorte, Marketing-Aufwendungen usw. Das aber für ihre seelische Gesunderhaltung, ja Rettung und für ihr Selbstwertgefühl enorm wichtig ist. Juno ist verheiratet mit Jupiter, einem Schriftsteller, dessen Multiple Sklerose ihn ans Bett und an die Wohnung fesselt. Sie umkreist und pflegt ihn sorgsam. Dies bestimmt ihren Alltag: die aufwändige Pflege des Ehemannes, der daraus resultierende Kampf gegen viele kleine Schwierigkeiten des Alltags, die finanziellen Engpässe und … ihre Einsamkeit. Denn auch Junos Welt ist kleiner geworden. Jupiter mag einen Ausweg in gedankliche Fantasiewelten, ins Intellektuelle gefunden haben. Für eine Tänzerin aber sind der Verlust von Bewegung, Raum usw. eine schwere Bürde.

So führt sie ein Doppelleben: Allnächtlich chattet sie mit – angeblichen – Herren im Internet. Von denen sie genau weiß, dass es gefakte Profile, Betrüger sind. Offensichtlich mag sie aber Begegnungen und eine gewisse Form aufregenden digitalen Flirts, … digitalen Tanzes. Suchtartig. Es amüsiert sie, dient dem Abbau ihrer Aggressionen, aber auch umgekehrt der Provokation von ihrer Seite aus. Doch gibt sie sich gar keinen Illusionen hin. Sie lebt sich virtuell aus. Genießt diese bizarre Art der Anerkennung, des Gesehenwerdens, ja – zynischerweise – eine Art buchstäblicher Wert-Schätzung: Jüngere Burschen aus anderen Ländern umschwärmen sie (meist unbeholfen), weil sie schätzen, dass sie über monetär interessante Werte verfügt … Im Grunde aber ist es ihr genug, wenn sie überhaupt ein „Gegenüber“ hat!

In ihren Chats überzieht sie hemmungslos. Weil auch ihre Gesprächspartner übertreiben: angebliche mittfünfziger, weiße knackige IT-Firmen-Bosse vor dem Segelboot aus den USA mit Hollywood-Film-Namen o.ä. Da raucht auch sie schon mal zusammengerollte 20-Euro-Scheine, kifft jeden Tag, ehe sie sich von 3 Liebhabern flachlegen lässt. Außerdem sind da noch drei Falken zu je 50.000 EUR zu versorgen. Und so weiter.

Dann wieder, gelangweilt oder aggressiv gestimmt, provoziert sie mit philosophischen Eskapaden. „Eigentlich geht’s mir gar nicht gut. Ich bin gerade im Gebirge. Jeden Morgen stürzt die Sonne hinter dem Nebel hervor und die Berge leuchten, aber es ist ein bisschen zu viel des Guten. Man sieht die Verletzlichkeit der Erde irgendwie. […] Es spielt keine Rolle, ob ich verheiratet bin! Damit das klar ist. Ich will dir hier nur meine Gedanken schreiben. Etwas über Verletzlichkeit. […] Wehendes Gras stürzt durch den Wind, die Pferde im Stall drehen die Augen auf, sind jedoch ruhig.“ Und so weiter. Das irritiert, die Dialog-Partner sind überfordert und es führt oft zum Blockieren des Kontakts oder Löschen des Chats. Ist ihr egal.

Dann aber gerät sie an Benu aus Nigeria. Schnell wird der angebliche Owen_wilson223 als betrügerischer Love-Scammer entlarvt. Anders als alle anderen bleibt er jedoch, outet sich öffnend als Benu und beide bauen eine intensive virtuelle Beziehung auf. Smalltalks mit Tiefe! Sogar Video-Calls führen sie miteinander. Sie sprechen offener und ehrlicher miteinander. Wie ehrlich, kann allerdings niemand wissen: Sie verheimlicht ihm gewisse Details. Und auch er könnte immer noch das Ziel verfolgen, letztlich doch ihr Vertrauen zu gewinnen um sie finanziell auszubeuten.

 

So entwickelt sich der Roman zu einer Reflexion über das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung, Nähe in einsamer, kalter Umgebung. Die Melancholie bestimmt Junos Stimmung. Und auch Lars von Triers Film „Melancholia“ wird von ihr immer wieder erwähnt und zitiert, anderen empfohlen.

Auch um Identität geht es. Denn Juno erschafft sich damit eine alternative Identität, einen Avatar – für die Flucht aus einem tristen Alltag. Denn Juno kommt es so vor, als ob sich ihr wahres Ich, ihr wahres Leben auf der Bühne abspielt, in ihren Tanz-Performances. Die anderen 90 Prozent ihres Lebens hingegen sei sie eben nicht „Sie“, nicht „echt“ sondern fremdbestimmt, falsch, eingesperrt, unfrei! „Nur wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich wirklich da. Dann gibt es mich.“ Als Schauspielerin sei sie wirklich! „Andersrum. Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. An normalen Tagen. Das spielte sie, ein normaler Mensch zu sein.“ Oder (nach den rauschhaften Auftritten): „Die grandiose Normalität des Theaters, diese echte, fassbare Welt, war der merkwürdigen erfundenen Welt des Alltags gewichen.“ Dieser Drang nach Echtem und Fassbaren drückt sich auch übrigens aus in ihrem Drang, sich Tatoos stechen zu lassen.

Es wird die Kolonisierung angesprochen: Die Afrikaner rechtfertigen ihre schlicht kriminellen Betrügereien moralisch mit der früheren Kolonisierung und Versklavung durch die Europäer. Sie hätten jetzt ein Recht auf Rache oder Wiedergutmachung. Andererseits dreht Juno in ihrer Art der fortdauernden Kommunikation mit Benu das Täter-Opfer-Verhältnis vielleicht um? Man weiß zwar nicht genau, was Benu nicht mehr plant oder letztlich doch aber anders plant. Aber Juno beutet Benu für sich, für ihre Bedürfnisse, für ihren beruflichen und damit finanziellen Erfolg aus. Denn letztlich verarbeitet sie ihre Erlebnisse mit Benu (und mit anderen Chat-Partnern) zu einem Performance-Stück, (und die Schriftstellerin Martina Hefter macht darüber einen Roman), indem sie dafür die Konversation mit „Benu“ vorantreibt und ausnutzt. Wer beutet also wen aus? Wer täuscht wen und missbraucht das Vertrauen? Ist nicht Benu jetzt das Opfer? Letztlich stoßen damit auch die afrikanischen rebellischen Betrüger an ihre Grenzen bzw. auf eindeutige Machtverhältnisse, denen sie unterlegen sind. Sie können „Glück“ haben und kassieren ab. Eher werden sie rasch enttarnt und vertun ihre Zeit.

Übrigens: An einer Stelle wird bemerkt, dass die Leidenschaft Junos, das Ballett eigentlich ziemlich kolonial sei: mit seinen steifen Regularien, die weltweit gelten würden. Es sei „superweiß“. Und dann noch die rassistischen Stereotype in Nussknacker, Don Quixote, Le Corsaire, La Bayadere)! Bis hin zum Blackfacing. Stereotype Frauen- und Männerschönheitsideale.

Außerdem gibt der Roman Einblicke in den gänzlich unromantischen Kulturbetrieb: Permanent sind Förderanträge zu schreiben, um Projekte zu initiieren oder am Leben zu halten, selbst zu überleben. Das Gewinnen von Buchpreisen ist bitteres Streben nach Einkünften! Und ein paar Seitenhiebe auf die Szene der „Literaturwelt-Boheme“, z.B. in Leipzig: „… ernste, etwas steife Menschen in Jacketts und wadenlangen Röcken, die viel tranken und sich immer aufgedrehter verhielten und immer lauter sprachen, je weiter der Abend vorankam.“

Und ausgiebig wird natürlich über Altern (Juno ist Tänzerin!)) und Krankheit reflektiert und die praktischen Schwierigkeiten im Leben von Eingeschränkten / Beeinträchtigten erläutert. Da gibt es ein launiges Kapitel über die Abenteuer einer Fahrt mit der Deutschen Bahn und den unfähigen Umgang des Unternehmens auch mit Rollstuhlfahrern …

 

Mehr oder weniger, viele Kapitel einleitende oder auflockernde elegante Reflexionen, Ausflüge in die Welt der Astronomie oder mythologische Anspielungen verweisen in kosmische Dimensionen. Juno ist die römische Göttin der Ehe und Fürsorge, Jupiter der überragende Göttervater. Kosmisch gesehen ist Jupiter der bei weitem größte Planet des Sonnensystems, während Juno als Kleinplanet im Asteroiden-Gürtel in Jupiters Nähe seine Bahn zieht. Im Roman umkreist Juno den mächtigen, aber doch kranken Jupiter. Obwohl der Charakter von Jupiter nicht gezeichnet wird, was Kritiker am Roman bemängeln, wird doch zumindest atmosphärisch, gefühlsmäßig deutlich, wie wichtig er in Junos Leben ist. Nur ein paar episodenhafte Pinselstriche über ihr Kennenlernen, aus ihrer gemeinsamen Biografie. Und doch ist fühlbar, dass sie ihm verbunden ist und geradezu unentrinnbar verbunden bleibt. Denn wie unselbständig Jupiter auch werden mag: Allein seine gravitätische Masse schützt sie und andere vor Asteroiden-Einschlägen …

 

Im Verlaufe des wochenlangen Chattens verraten Benu und Juno mehr oder weniger gewollt einige ihrer Charaktereigenschaften. Benu scheint fasziniert von dieser koboldartigen Dame aus Europa. Er mag sie, schreibt irgendwann gar, dass er sich verliebt habe! (Kommt nicht gut bei Juno an!) Aber auch machohaft-patriarchalische Belehrungen blitzen auf. Er fühlt sich gedrängt, sie zu ermahnen und vor dem Teufelszeug Alkohol (und zu vielen Männerbekanntschaften) zu warnen. Er empfiehlt hingegen ausgiebiges Kiffen! Schließlich fürchtet er sie aber auch. Juno macht einige unbedachte, scherzhafte Bemerkungen zum Verzaubern, Fluchen u.ä. und verstört damit den jungen Mann außerordentlich, sodass er sich schließlich auch zurückzieht und sie aufgibt, blockiert. In Nigeria sind Hexenglaube und Voodoo-Praktiken verbreitet!

Juno hat ein dazu passendes, ganz eigenartiges Hobby: die fotografiert und sammelt gern tote, aber äußerlich unverletzte Tiere …: Taube, Star, Kreuzspinne, Wildente, diverse Insekten. Intakt, wie schlafend, schön – aber reglos und dennoch verloren, völlig fehl am Platz wirkend. Das verweist auf ihre Selbstwahrnehmung. Knüpft aber gleichzeitig dünne, magische Fäden zum … Voodoo.

 

Interessant erscheint der Stil des Romans. Natürlich wird die Konversation zwischen Juno und Benu blog- / blockartig wiedergegeben. Dies ähnelt dem „kastigen“ Dialog auf Instagram oder WhatsApp. Die Emojis allerdings kommen nicht als Symbole oder Piktogramme, sondern als kurze textliche Beschreibung („okay, lol! Zwei Tränenlachsmileys“). Das hätte die Autorin für die Leser mit echten Emojis schneller und dem modernen Socialmedia-User vertrauter lösen können. Hat sie aber nicht, also tat sie es bewusst, mit einer Intention.

Die Sprache des Gesprächs ist streckenweise schlicht, monoton, öde und ideenlos, gelangweilt klischeehaft. Zumindest seitens der „männlichen“ Partner. Aber Benu entwickelt sich etwas. Juno hingegen geht provokanter, philosophisch-intellektueller, kreativer vor. Je stumpfsinniger die Partner agieren, desto aggressiver und höhnischer wird sie. Dank Benu aber beginnt sie sich immerhin für die Verhältnisse in Nigeria zu interessieren. Nicht wirklich tiefgehend. Sie wird nicht zu einer Sozialarbeiterin oder Unterstützerin einer helfenden Organisation. Zuvor allerdings wusste sie gar nichts.

 

Interessant erscheint mir auch der Umstand, dass die Autorin und ihre Heldin auch leidenschaftliche Tänzerinnen sind. Hefter schrieb bislang eher Poetik, Gedichte. In Ihrer Art und Konstruktion soll man diese auch als Tänze, Reigen, Spielen mit Aktionen und Reaktionen, tänzelndes Agieren und Erwidern sehen können. Auch der Roman sei in seiner Struktur „klug choreografiert“ (Deutschlandfunk). Man könnte hier bestenfalls die Chat-Verläufe daraufhin betrachten: Es sind eben dialogische, kürzere Textschnipsel. Allerdings wechseln diese Abschnitte mit längeren Prosa-Passagen, zwischengestreuten kleinen Geschichten, die auch separat gelesen und verstanden werden könnten. Dies veranlasste übrigens einen Interviewer, Martina Hefter nach der Art und Weise ihres Schreibens zu fragen: Gibt es da einen Fahrplan? Postit-Zettelchen

an der Wand, einzelne, schon fertige Stories aus unterschiedlichen Zeiten ihres Schaffens, die dann zusammengebunden werden?

 

Der Roman erzielte auf mich eine gewisse Anziehungskraft. Dennoch wird er mich wohl nicht nachhaltig beeinflussen oder längere Zeit in emotionaler Erinnerung bleiben. (Das ist so bei den kürzlich gelesenen „Lichtungen“ von Iris Wolff, einer weiteren Kandidatin für den Deutschen Buchpreis 2024.)

Sicher: Weder Benus noch Jupiters Perspektive, Sicht auf die Dinge werden näher dargestellt, deren Charaktere nicht ausgeformt, weil es eben nicht um sie geht; sondern nur um die Befindlichkeiten, das Lebensgefühl der Protagonistin bzw. um neuere allgemeine gesellschaftliche Phänomene ... Was diese mit den Menschen in den zeitgenössischen (post-)industriellen Ländern des globalen Nordens machen und wie diese damit umgehen. Das geht schon in Ordnung so. Dennoch erscheint mir der Roman seltsam unfertig, nicht tiefgehend genug, unbefriedigend. Vielleicht sogar unsympathisch. Was treibt da die Juno?

 

Mich befremden auch die fast schon zu vielen autofiktionalen Elemente - sehr viele Parallelen zwischen der Person Junos und der Autorin Martina Hefter: Herkunft, Ausbildung, Hobbies, Jobs, Alter, Wohnort, Lebensumstände, kranker, schriftstellernder Ehemann usw. Und wirklich hat auch Hefter intensiv mit Love-Scammern und Chat-Partnern auf Instagram & Co. kommuniziert.

Wo ist die Grenzen zwischen ihrem und dem künstlerischen „Ich“? Was ist ihre wirkliche ästhetische, intellektuelle, reflektierende, geschichten-erfindende Leistung?

Sogar: Wird der originale, Inspiration gebende Benu eigentlich irgendwie … entlohnt?

 

Was ist das für eine Juno? Sie könnte durchaus nähre Kontakte zu echten Menschen herstellen und vertiefen. Da ist Pluto – auch so eine astronomischer und Göttername. Ein Gott des Reichtums und der aus der Erde kommenden Schätze: Bodenschätze, aber auch Getreide, keimende Pflanzen. Klingt bodenständig, oder? Aber ihn lügt sie an, belegt ihn mit „mikroaggressiven“ Gesten und lehnt die Annäherung ab. Offenbar unterscheidet sie physisch: das Chatten ist kein Verrat oder Betrug an ihren Mann, echter, unmittelbarer Austausch schon. Oder: diese Chats sind Verbindungen, die nur auf Lügen basieren, auf Unwahrheiten. Das ist wohl in der Realwelt nicht durchzuhalten. Dennoch schlagen auch ihre Unwahrheiten auf das reale Leben durch: Sie beutet Benu aus!

 

Dennoch glaubt sich Juno am Ende, nach Benus „Abtauchen“ gestärkt, zuversichtlicher:

„Vielleicht hatte ich eine Weile auch dich.

Ich habe über Freundschaft nachgedacht,

zum ersten Mal in meinem Leben.

Vielleicht waren wir so was: Freunde.

Oder hätten es werden können.

Ich hätte dich gern als einen Freund.“