Tatjana Tolstaja: Kys. (1986-2000)
"Held" des Romans ist Benedikt. Übrigens ein von der Autorin bewusst gewählter sprechender Name: "der gut Sprechende" ... (in diesem Fall vielleicht: "der mit angeblichem Kultur-Habitus Blendende"). Er lebt in Fjodor-Kusmitschsk, das vor über 200 Jahren, vor dem "Großen Knall", einmal als Moskau bekannt war: Die Menschen haben wohl "zu viel mit ihren ROHRKETEN rumgespielt." Der Atomkrieg legte Welt und menschliche Zivilisation des 20. Jahrhunderts in Schutt und Asche. Seither hat sich die (teilweise mutierte) Natur wieder leidlich erholt, die Nachfahren der Überlebenden bewohnen wenige, voneinander isolierte frühzeitlich-mittelalterlich anmutende Siedlungen. Weitgehend ohne Kultur und Moral, in allgemeiner Dummheit und ohne wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Man ernährt sich von Mäusen. Selbst einfache Errungenschaften wie Töpfern oder Wollemachen sind mühsam neu zu erfinden. Bezeichnenderweise fehlt den Menschen selbst die Fähigkeit Feuer zu machen! Das wäre ja eine menschliche "Basis-Kompetenz", sozusagen ...! Aber unter ihnen leben einige "Vorige" - Überlebende des "Großen Knalls", inzw. unverstandene Zeitzeugen, geistige Leuchttürme einer "lichten Vergangenheit", die aber immer mehr verglimmt. Einer von ihnen, Nikita Iwanytsch dient den Stadtbewohnern als Oberheizer: er verfügt über die wundersame Fähigkeit, mit dem Mund Feuer zu entfachen. Dies und seine intellektuelle, gütige Größe machen ihn zu einem letzten Prometheus, einem Kulturbringer für die Stadt.
Nikita setzt große Hoffnungen in Benedikt, dem im Vergleich zu vielen körperlich mutierten und auch geistig heruntergekommenen Bürgern gut geratenen Sohn einer langlebigen "Vorigen", die jedoch der Genuss giftiger Feuerling-Pilze umbrachte. Nikita Iwanytsch schätzte sehr die tüchtige, resolute und intelligente Mutter von Benedikt. Auch deshalb fühlt er sich ihrem jungen Erben verbunden. Und auch Benedikt selbst bewundert den starken, kulturvollen Licht- und Wärmebringer. Ohne ihn zu verstehen, sich ihm wirklich nähern zu können.
Benedikt arbeitet in einer Amtsstube als begeisterter Kopist, Abschreiber alter Bücher. Zwar ist es in der neuen tristen und groben Welt verboten, alte Bücher zu besitzen (weil von ihnen wegen ihrer angeblichen Verstrahlung Gefahr ausgehe), dennoch wird eifrig gelesen: Der trottelige Tyrann Fjodor Kusmitsch, dessen Name die Stadt gerade trägt, lässt alte Bücher und - mehr oder weniger wahllose - Auszüge daraus auf Bast und Rinde abschreiben und als seine eigenen genialen Schöpfungen verbreiten. So maßt er sich an, alleiniger Kulturbringer zu sein und sämtliche Erfindungen gemacht zu haben. Ein Betrüger, der aber selbst kaum etwas auch nur ansatzweise von dem versteht, was er da unters Volk bringt.
Benedikt schreibt also zahllose Bücher jeglicher Art ab, liest tausende Gedichte und Bücher und hält sich zunehmend für einen kulturvollen, gebildeten, belesenen Menschen - einen Kunstfreund. Den anderen Einwohnern überlegen - insbesondere den prolligen, völlig unintellektuellen "Transgeburten". Das sind angebliche Mutanten, die wie Vieh behandelt werden. Doch tatsächlich versteht auch er nichts von dem, was er da "lesend" zusammenbuchstabiert. Er hat keinen Bezug zu jener verlorenen Welt, aus der die Texte kommen. Wie auch? Und Neues wird auch nicht selbstständig erfunden. Formal beherrscht er also das Alphabet und ist geradezu süchtig nach (völlig wahlloser) Lektüre, doch das Alphabet des Lebens versteht er nicht. Er bleibt ein nahezu kulturloser Barbar. Letztlich seelenlos und ohne Verstand, Empathie, Gewissen, Güte und Liebe.
Von Frauen umschwärmt, an denen er zunächst gern seine physischen Triebe abarbeitet, lässt er sich doch auf eine Heirat mit der attraktiven "Kollegin" Olenka ein. Sie möchte er heiraten, auch um sozial aufzusteigen, um anerkannt zu werden. Denn Benedikt ist ein sehr simpler Kopf. Olenka erweist sich als Tochter des "Generalsanitäters", des furchtgebietenden Geheimdienstchefs, der nach möglichen Bedrohern bzw. nach Buch-Besitzern fahndet und entsprechend "behandelt". Also diese Menschen "heilt"! Die Sache desinfiziert! Dies bedeutet natürlich nichts anderes als zu foltern, zu töten, Terror zu verbreiten bzw. fremden Besitz zu beschlagnahmen. Benedikt hat zunächst große Furcht, kann sich aber dennoch ziemlich rasch mit "der Macht" und dem gedankenlos-brutalen Wohlleben arrangieren.
Zumal er in der neuen Familie einen großen, paradiesischen Buchvorrat findet, den er komplett durchliest. Anschließend, um sein Bedürfnis nach Neuem weiterhin zu befriedigen, betätigt er sich selbst als "Sanitäter": durchsucht die Hütten der Bewohner nach illegalen Büchern, schreckt auch vor Folter und Mord nicht zurück, um ggf. die Herausgabe zu erzwingen.
Und schließlich, als auch diese Reserve erschöpft ist, erkennt der Gierige, dass sich die größte Buch-Schatzkammer (= Kultur- und Wissensvorrat als Machtpotenzial) im Palast des Stadt-Tyrannen Kusmitsch befinden muss. Gemeinsam mit seinem Schwiegervater, dem "Generalsanitäter" Kudejan (übrigens ein Räubername!) unternimmt er einen als "Revolution" nur grob-zynisch getarnten Putsch gegen ihn und tötet den liliputanerhaften, lächerlichen Kusmitsch. Im dümmlich-naiven Glauben, die Kulturgüter zu retten.
Tatsächlich bereitet er damit einer viel extremeren, aggressiv-faschistoiden, kulturfeindlichen Diktatur den Weg. Was der am realen Alltagsleben uninteressierte und zunehmend lebensuntüchtige Benedikt nicht erkennt. Denn die geistigen und kulinarischen Kostbarkeiten um ihn herum überfordern ihn. Sich an ihnen hoffnungslos überfressend vegetiert er zurückgezogen in seiner Bibliothek buchtstäblich dahin.
Dabei galt seine größte Ur-Angst immer der "Kys". Dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Story. Das ist ein nahezu unsichtbares, ewig hungriges katzenartiges Wesen, das Unheil und Tod über die Menschen bringt. Wo aber lauert es wirklich? Tatsächlich irgendwo in den umgebenden undurchdringlichen Wäldern? Außen - oder doch innen?! In ihm selbst? Ist er gar selbst eine tödliche "Kys" - für sich selbst und v.a. für die anderen?
Zum Schluss wenden sich die neuen Diktatoren gegen den Oberheizer Nikita Iwanytsch, obwohl doch nur er den Menschen das Feuer bringen kann. Benedikt verweigert sich zwar zunächst, doch als man ihn mit der Vernichtung der Bücher erpresst, muss er Nikita überzeugen, sich um der Rettung der Kultur willen zu opfern: Er soll auf einer hölzernen, benzin-getränkten Puschkin-Skulptur verbrannt werden. Selbst dafür muss der Heizer das Feuer selbst entzünden!
Die Hinrichtung gerät zum Fiasko: Die Siedlung und wohl auch die allermeisten Einwohner inkl. Diktator und Helfer werden abgefackelt. Auch der Palast und damit alle Bücher sind verbrannt.
Im Nachklapp tritt der überlebende Benedikt zum verkohlten Puschkin-Denkmal und erblickt dort den irgendwie gleichfalls überlebenden Nikita. Oder sind doch alle gestorben? Jedenfalls erhebt sich Nikita in den Himmel: Er hatte keine Lust, zu verbrennen, meint er dabei lakonisch!
Tatjana Kys arbeitete jahrelang - von 1986 bis 2000 - an diesem Roman. Sie begann also bereits während der Perestroika-Zeit Gorbatschows mit dem Schreiben. Es ist also eine bitter-sarkastische Beschreibung des von ihr beobachteten totalen geistig-kulturellen und materiell-ökonomischen Verfalls vor dem sich bereits abzeichnenden Ende der Sowjetunion. Sie verbindet märchenhafte Elemente mit schwarzer Komödie und düster-realistischen Visionen. Deutlich eine Parabel auf die Gegenwart der russischen Achtziger und Neunziger. Gespickt mit unendlich vielen Zitaten aus der russischen Literatur. Die Sprache ist - teilweise künstlich wirkend - sehr "grob-bäuerisch" gehalten, insgesamt meiner Meinung nach ziemlich schwer lesbar, eben nicht flüssig. Das gesamte Werk ist schwer verdaulich. Immerhin ist die deutsche Ausgabe mit einem 20-seitigem Anhang versehen, der viele der den meisten deutschen Lesern unbekannten Begriffe erklärt, die typische Gegenstände und sonstige Dinge aus der russischen Folklore bezeichnen. Aber auch hunderte Zitatnachweise bringt, die sonst ohne sehr tiefe Kenntnis der russischen Literatur und Geschichte unverstanden und nicht gewürdigt blieben.