Viktor Pelewin: Der Wasserturm. Erzählungen. (1988-1999)

Der Wasserturm (1988)

Faszinierend: Eine Erzählung bestehend aus einem einzigen Satz über 13 Seiten! Dennoch gut lesbar durch Kommata strukturiert. Zwar verständlich - aber eine atemlose, ununterbrochene Kamerafahrt durch das Leben eines Menschen. Das erinnerte mich an Sokurovs One-Shot-Film "Russian Ark": ein Parforce-Ritt durch ein Jahrhundert russischer Geschichte in nur einer Kameraeinstellung durch Petersburgs Winterpalast. (Der Film wurde erst 2001 aufgenommen.)

Erzählt wird die Lebensgeschichte eines Mannes, beginnend mit einem Blick aus dem Fenster auf einen Wasserturm des Jahres 1928. Dem schließt sich eine sprachlich sehr geschliffene Reise durch sein Leben an: Kindheit, Tante, Schule-Mobbing, Heirat, vier Jahre Krieg, Job, Frustration und Furcht vor Geheimdienst und Verrat usw. usw. - bis schließlich an sein Ende: eben jenem (oder einem anderen?) Blick aus dem Fenster auf den Wasserturm! Das ebenso (s)ein Anfang sein kann! Bei Pelewin, der stets mit Wirklichkeiten und Zeiten spielt und den Übergang zwischen ihnen, ist das nie ganz klar. Denn schon anfangs gibt der Autor zu bedenken: "... die Dinge treten in Erscheinung, sobald ihre Namen bekannt werden ...". Und diese erfahren wir ja erst während der Story! Und somit treten die Dinge erst nach dem Ende der Wiedergabe in Erscheinung. Eine Schleife?

 

Ein durchschnittliches aber auch ein reiches Leben, wird da geschildert. Manchmal aber auch so bitter, verlogen und offenbar schuldbeladen, dass der Mann an Suizid denkt, aber: "... freiwillig aus dem Leben zu gehen ist Sache der Schwachen, Starke werden aus dem Leben gezwungen ...": denn auf der Arbeit "... denn derart bissige Hunde schleichen dort, in Anzüge kostümiert, über die Flure, daß man selber unentwegt murren muß, um nicht versehentlich angefallen zu werden ..." Zum Lebensabend kauft er ein Buch um Antworten zu finden. Der Titel wird nicht genannt (diese Erzählung Pelewins erschien 1988 ...), aber offensichtlich handelt es sich um die Bibel. Erleuchtung erlangt er nicht aber die ironische und vielsagende Erkenntnis: "statt dessen erhebt sich der Gedanke, daß man inzwischen ebensosehr in Zweifel ist, ob das Leben existiert, wie man früher die Existenz des Todes in Zweifel gezogen, und von dieser Erkenntnis wird dir dermaßen angst ..." Ja, exakt solche beunruhigenden Gedanken oder Ahnungen befallen mich nun seit wenigen Jahren ebenso ...!

 

Ein Wasserturm steht da am Anfang und am Ende. Und dazwischen schwingt auch so etwas wie ein Wasserturm: "ein kleiner Mensch oder ... ein kleiner Wasserturm, was im Grunde ein und dasselbe ist, wenn man bedenkt, daß der Mensch nicht viel anderes ist als eine zwei Meter hohe Wassersäule, fähig, selbsttätig auf der Erdoberfläche zu wandeln".

 

Wahrhaft erstaunlich! Eine der ersten Texte Pelewins, und schon sieht man eigentlich alles, was ihn auch hernach in seinen sämtlichen Erzählungen und Romanen bewegte!

 

 

Leben und Abenteuer des Schuppen No. XII (1989)

Die Lebensgeschichte eines Schuppens - von der fremdbestimmten Geburt, fremdbestimmten Leben bis zum (selbstbestimmten) irdischem Ende! Das zum Anfang, zur Verwirklichung seines wahren Wesens wird. Warum nicht? Zumal sich wunderbar passend anknüpfend an die erste Erzählung!

Seine "Reise" beginnt als Bretterstapel in einer rätselhaften Welt. Anders als andere Gebäude in seiner Umgebung (triviale Garagen - die ihn später trivialen Denkens und Funktion bezichtigen, "prollige" Schuppen als Sauerkrautlager) besteht seine Funktion lange Zeit darin, Fahrräder und Hula-Hopp-Reifen zu lagern, zu schützen. Das bestimmt sein Bewusstsein, darum rankt sich seine Philosophie und dies begründet seine Sehnsüchte - nämlich selbst ein freies, in die Fernen reisendes Fahrrad sein zu wollen. Alles scheint möglich. "Allein schon die Möglichkeit machte ihn glücklich." Dies erhebt ihn über seine Nachbarschaft und verführt ihn auf den Gedanken, "er könnte früher etwas anderes gewesen sein als ein Schuppen - ein Sommerhaus vielleicht oder zumindest eine Garage?" (Ja, ja - wenn jemand einmal von Seelenwanderung oder Wiedergeburt schwadroniert, erklärt er stets, ein Edler, Ritter, Magier oder ähnliches gewesen zu sein. Seltsamerweise nie ein Galeerensklave, ein schnell hingeschlachteter Krieger, ein schmutziges Bäuerlein oder auch früh verendetes Bauern-Kleinkind. Und dann nochmal, und dann nochmal, und dann nochmal ...

Erste Risse erhält seine Weltsicht, als ihn die benachbarte Garage erklärt, dass ihm nun wirklich keine tragende Rolle im Universum beschieden sei. Eine Garage sei der Maßstab, das Ziel ... Sie verglicht ihn mit anderen seiner Art: mit den stinkenden Sauerkraut-Lagerschuppen. Mit denen will Schuppen Nr. 12 nicht gleich gesetzt werden. Doch das tritt dann doch ein: Die Fahrräder kommen raus. Ein stinkendes, gäriges riesiges Saure-Gurkenfass kommt rein. Offenbar seine Ankunft im Erwachsenen-Alltag - bei gewöhnlicher Arbeit und Familie. Denn das Fass wird verdächtig weiblich und die Gurken darin wie Kinder beschrieben. Und zwar in nicht gerade netter Weise. Zunächst versucht der Schuppen mit aller Willenskraft seine Individualität aufrechtzuerhalten. Dann lebt er in der Vergangenheit. Irgendwann interessiert ihn auch die Umgebung nicht mehr. Er dämmert ... Er kumpaniert mit den Sauerkrautlagern und mit deren kapitulierender Küchenphilosophie: Schönheit gründe sich auf Harmonie. Gurken und Kraut seien objektiv vorgegeben. Folglich bestehe das Schöne im Leben darin, zum vorgegebenen Inhalt des vorgegebenen Fasses ein harmonisches Verhältnis aufzubauen! Er stumpft also ab, gewöhnt sich, immer häufiger und dauerhafter empfindet er sein Fass als "Unterpfand von Ruhe und Sicherheit, so wie der Ballast auf einem für zu leicht befundenen Schiff". Nur selten braust er noch auf und empfindet Selbstverachtung und Hass. Aber dann entgleitet er wieder in den Sumpf und "die Gurken dünken ihn nun wie leibliche Kinder". Er arrangiert sich also mit dem ihm zugewiesenen Schicksal, er identifiziert sich mit einer irgendwie ungerechten Strafe. Fass und Gurken seien sein Wesen. Erfolgreich sediert! Keine Änderungen mehr!

Doch schließlich bricht er doch noch aus: Der vergessene und längst verstaubte Hula-Hopp-Reifen erinnert ihn daran, "wer er in Wirklichkeit war", und findet zu sich selbst, streift den kalten Stumpfsinn ab und sorgt für einen Kurzschluss in der Stromverkabelung. Der Schuppen und sein Fass gehen in Flammen auf: Wände, Innenleben und schließlich auch das Dach. Übrigens auch die Nachbarschuppen.

 

Das ist keineswegs das Ende! Die menschliche Besitzerin kommt nächtens nachhause und sieht auf der Allee ein verschwommenes leuchtendes Fahrrad ohne Fahrer durch die Luft und dann gen Himmel fahren: Ein seltsames Bike, das aus Brettern gezimmert scheint ...

Ein Trost ...

 

 

Nachrichten aus Nepal (1990)

Wieder eine Lebensgeschichte, die sich aber lange nicht wie eine solche liest.

Die 28-jährige Ljubotschka muss an einem trostlosen, vermodderten Wintertag zur alltäglichen Arbeit, verlässt etwas verspätet den Drecks-Trolleybus und überquert die zugeschlammte Straße, über die sich nahezu lückenlose, hässliche Kolonnen von schmutzigen holz- und stahl-verkleideten Lkws wälzen.

Es schließt sich die Schilderung ihres gewohnten Arbeitstages an: Sie arbeitet als Ingenieurin in der Rationalisierungs-Abteilung einer Firma, deren Aufgabe oder Produkte nicht klar werden. Auch die Tätigkeiten, der Arbeitsinhalt der verschiedenen Bereiche - Rationalisierungsbüro, Buchhaltung, Blechnerei, Schlosserei usw. - wird nicht deutlich. Die Leute laufen ziellos umher oder sitzen nur da, um Domino zu spielen. Die eingereichten Neuerungs-Vorschläge sind primitivster Art und lächerlich und ohnehin unnütz, da sowieso kaum jemand arbeitet. Wie stupide Roboter, die nur lustlos und automatisiert "Arbeitstätigkeiten" nachäffen - manchmal nicht mal das. Auch Ljuba versteht ihren Job nicht einmal. Ist völlig unqualifiziert. Da müssen ihr selbst schläfrige Arbeiter quasi augenrollend einfachste Tipps geben. Ohnehin bedauert sie, nicht einen Typen gehelicht zu haben, der zum Militär hing: Dann könnte sie jetzt gemütlich in einer Garnisons-Bibliothek an der Buchausgabe abhängen. Mit intellektuellem Status, haha! Jener junge Mann hieß übrigens Balalykin - ja doch, SOLL ganz sicher an "Balalaika" erinnern ... - ein Witz! Der Soldat, die Armee, die Kalaschnikow - Militarismus eben als echt basale Folkloristik Russlands - wie eben dieses Instrument. Ja, spätestens heute im Jahr 2023 verstehen auch die Unkundigsten diesen sarkastischen Fingerzeig!

Als es mit dem Rationalisierungs-Soll nicht vorangeht, wird Ljuba zur Mithilfe an der Erstellung irgendeiner Wandzeitung abkommandiert: Bilder auspinseln. Unter der Leitung von Kostja, dem "künstlerischen Mitarbeiter des Fuhrparks" - warum und wozu zum Teufel auch immer es einen solchen geben mag ...! Selbst für diese Tätigkeit findet sich nur ein Pinsel ... stummel. Nichts läuft in dem Laden.

Zunehmend erlebt sie absurde Szenen auf dem Fabriksgelände, ohne dass ihr irgendetwas bewusst wird. Sie sich Fragen stellt.

Da wandern beispielsweise Typen in eigenartigen Gewändern mit seltsamen Losungen herum, über seltsame philosophische Thesen diskutierend ...

Da findet sie in der Jackentasche ein Merkblatt (zur mehr oder doch eher weniger sinnvollen Weiterbildung der Werktätigen?) mit dem Titel "Vielgesichtiges Katmandu" mit einer Beschreibung des netten Landes Nepal und seiner Hauptstadt, nebst historischem Abriss, Sehenswürdigkeiten, Wirtschaft, verdächtig lange (und beißend satirische) Passagen zu religiösen Gruppierungen. Zunächst alles ganz interessant und halbwegs realistisch erscheinend. Es schleichen sich aber - zunächst unmerklich - abstruse Details hinein, die Skepsis aufkommen lassen. Irgendwann heißt es, dass sich sogar russische Siedler mit ihren speziellen Gebräuchen in den nahen Bergen niedergelassen hätten. Und als dann auch noch die bei Touristen so beliebten Sandstrände von Katmandu gepriesen werden und das mit tatkräftiger sowjetischer Hilfe errichtete moderne Glühlampenwerk, muss man einfach lauthals lachen: Unsinn!

Die Geschichte gipfelt in der einer Szene in der Fabrikskantine. Nach einigem sehnsüchtigen Fabulieren über das exotische Nepal schaltet jemand das Radio ein, woraus nun ebenfalls über Katmandu berichtet wird. Und zwar zunehmend drohend-mahnend und dann gar aggressiv. Es gipfelt in Aussagen über "... die Schrecken des Todes in seiner sowjetischen Gestalt ... die Menschen ... kennen nichts als das Leben und können darum im Tode nichts anderes sehen. ... Möge euch das Balalaikaorchester ... morgen ein böses Erwachen sein! Und bedenket: In nichts wird sich euer Morgen unterscheiden vom Heute". Es findet sich noch Hinweise und Erinnerungen an die erste und zweite himmlische "Zollstation".

Klingt irgendwie wahlweise nach Zwischenhimmeln ... oder eben Höllenkreisen.

Die unreflektierten, abgestumpften, fremdbestimmten, mit sinnloser Betriebsamkeit beschäftigten Sowjetmenschen (und ich meine, nicht nur diese!) werden wohl die zweite Zollstation so bald nicht erreichen: Sie hängen (gegrüßt sei immer wieder aufs Neue der Groundhog Day) in der ersten Schleife fest! Wo man eh nicht Leben und Tod voneinander unterscheiden kann!

Denn es kommt plötzlich in wenigen abschließenden Sätzen die harte, schreckliche Erkenntnis: Sie alle SIND tot: Ljubotschka mit Reifenabdrücken auf dem Jäckchen über der zerquetschten Brust (hat also den morgendlichen Absprung aus dem Trolleybus nicht überlebt!), der Chef mit Einschussloch an der Schläfe, ein Arbeiter mit zertrümmerten Schädel (also doch noch vom Hammerschlag getroffen) usw.

Die entsetzte Ljubotschka will aufstehen und etwas ändern. Zu spät: Und plötzlich ist da wieder die Tür des Trolleybusses und ihr Sprung in die Pfütze: Alles auf Anfang. Immer wieder. Der Kreislauf ist geschlossen.

Wo ist der Anfang, wo das Ende, was ist wirklich? Ist das (in der Ödnis) nicht eh einerlei? Und wieder das Lebensthema Viktor Pelewins.

 

 

Die Brücke, über die ich hatte gehen wollen (1999)

Den Band beschließt eine sehr kurze Story, die die vorherigen Erzählungen passend ergänzt.

(Die Auswahl besorgte Pelewins Deutsch-Übersetzer Andreas Tretner aus 10 Jahren Schaffensgeschichte.)

Es erzählt von einem jungem Mann, der als Kind gern Fahrrad fuhr, an einem Kanal entlang in Richtung einer Brücke. Die er aber als Junge nie überquerte. Als zurückgekehrter Erwachsener erfreut ihn der Gedanke, nun mit dem Fahrrad die gleiche Strecke zu fahren, aber endlich diese Brücke zu nehmen.

Daraus wird nichts: Der Weg führt vorbei zur neuen Betonbrücke. Die alte steht noch inselartig in der Nähe, die Straßenanschlüsse zerstört.

Gute Antwort, denkt der Erzähler, und sinniert: "Allerdings habe ich den Verdacht, daß es sich bei der Lethe nicht um jenes Gewässer handelt, in das wir nach dem Tod eintauchen, nein, es ist der Fluß, über den wir zu Lebzeiten setzen. Mit der Brücke unter den Füßen. Aber ob es Ufer gibt?"

Und da sind sie wieder: die verschiedenen Wirklichkeiten. Die Seiten, die beiden oder mehr wahren Spiegel, sich gegenüberstehend. Von denen man nicht weiß, wer wen spiegelt! Und wir, oder irgendein Abbild des Abbildes des Abbildes von uns, die zwischen diesen Spiegeln pingpong-mäßig hin- und hergeworfen werden. Oder meinetwegen selbsttätig zu springen glauben. Oder selbst einen der Spiegel darstellen ... Mobile Brücken sind. Brückenteile. Oder ein Leben als "Brückenspaziergang" vorführend.

So endet denn auch dieser Text: "Eigentlich ... habe ich im Leben nie etwas anderes getan, als mit meinen Schritten jenes in der Luft hängende, ins Nichts führende Stück Straße auszumessen - die Brücke, über die ich so gern hatte gehen wollen."

Da wurde mir etwas sentimental ums Herz.

 

 

In einem guten, lesenswerten Nachwort erinnert Daniel-Dylan Böhmer daran, dass Pelewin-Figuren hauptsächlich damit beschäftigt sind, Universen zu erschaffen, indem ihre Hirne die Wirklichkeiten erstellen, die Inhalt der Romane sind. Die meisten Figuren ... sind aber ebensosehr Komparsen dieser Wirklichkeiten, wie sie deren Schöpfer sind, und nicht selten stellt sich heraus, daß sie die Idee einer wieder anderen Figur sind, die ein paar Dutzend Seiten zuvor kurz über die Bildfläche gehuscht ist. ... [Sie] stolpern ... zwischen den Realitäten hin und her, krachen durch Falltüren, verheddern sich in Einbildungen, finden eine Geheimtür als Ausweg, nur um dahinter gegen einen Spiegel zu prallen." - Wie gut, dass ich erst vor wenigen Tagen Pelewins "Prinz vom MinPlan" gelesen habe und ich somit die Bilder Böhmers deutlich verstehe! Pelewins wiederholte Art, die Realität zu dekonstruieren, was "die Realitäten nur um so monströser wuchern" lässt! Selbst bei "Buddhas kleinem Finger" ist es so: die Wirklichkeit als Wahn eines imaginierten Erzählers - der Leere (die zwischen der Bürgerkriegs-Welt Tschapajews und einem russischen Irrenhaus Anfang der Neunziger pendelt. Zumal der Held dort Pjotr Pustota heißt: russisch für "Leere" ...

"Frage 102: Wer ist der Schöpfer des Universums?" Vielleicht "ich"? Nicht so leicht zu beantworten! Zumal in einem Zeitalter, in dem die virtuelle Welt, die "durch die Bildröhre kriechen wird, die Realität nach und nach verspeist" (Niklas Luhmann). Selbst die "Demokratie" (bzw. die Farce davon) lässt etymologisch neu deuten: "demo-version" (Generation P).

Eigentlich schwere Kost, des Zen-Buddhisten Pelewin. Wie gut, dass dies immer wieder Humor hervorblitzt. Grundlegende, abstrakte philosophische Fragen (vielleicht) - sozusagen -  "rustikal" drapiert und in begreifbare oder bekannte Umgebungen stellt.