Anton Tschechow: Der Bär. (1888)

In Frankfurts Nähe leben zwei Schauspieler, die seit Mitte 2025 in ihr "Wohnzimmertheater" nach Niedereschbach einladen: Marc und Wiebke. Da kommen dann fünf oder sechs interessierte Zuschauer zum einigermaßen kleinen Preis in ihr Wohnzimmer, setzen sich auf die Couch, knabbern an Gebäck, nuckeln an der Bierflasche oder nippen am Weinglas, plaudern mit den beiden über die aktuelle Situation von Schauspiel und Schauspielern bzw. über deren persönliche Intentionen und verfolgen danach das Spiel. So war es auch bei ihrer „Inszenierung“ des Tschechow-Stücks „Der Bär“. Sie gestalteten es als eine (szenische) Lesung. Wiebke übernahm die Rolle der verwitweten Gutsbesitzerin Jelena Popova und Marc die des bärigen Grigorij Smirnov - und sämtlicher weiterer kleinen männlichen Nebenrollen. Anschließend diskutierten wir etwas über das Stück, über männliche und weibliche bzw. gesellschaftliche Rollenverständnisse (die Tschechow schon damals hinterfragte!), die möglichen rasanten Stimmungsumschwünge im Verhältnis zwischen Mann und Frau, die Fragilität von Emotionen und Meinungen besonders im Hinblick auf leidenschaftliche, kaum kontrollierbare Entwicklungen usw.

Die Idee des „Wohnzimmertheaters“ gefiel mir: Intimer Kreis, Gespräch, unmittelbare Interpretation und direkter Austausch miteinander und mit den Schauspielern. Irgendwie eine heutige Form dieser ... literarischen Salons und Kunst-Zirkel der Boheme im 19. Jahrhundert. Die beiden Schauspieler kritisierten explizit das Frankfurter Schauspiel als vielleicht bisweilen zu experimentell und damit zu abgehoben. Sie sympathisierten eher mit einem pädagogischen Bildungsauftrag des Theaters. Da schwieg ich: Über das klassisch, also in originaler Weise aufgeführte Stück und den Inhalt usw. kann sich der geneigte Leser auf YouTube oder via Wikipedia informieren. Spannend finde ich die Auslegung des jeweiligen Stoffes oder  die Hervorhebung, die Fokussierung auf einen bestimmten Aspekt,  auf ein Phänomen, eine Figur. Auch wenn dadurch eine ganz neue Lesart entstünde oder gar etwas fast Neuartiges herauskäme. Man darf das m.E. als künstlerische, kreative Freiheit ansehen - zumal spätestens nach 70 Jahren, wenn künstlerische Werke gemeinfrei und damit Gemeingut werden. Gerade doch Kunst basiert auf Kreativität. Was kann uns das Werk heute noch sagen und wie kann es heute zum Nachdenken anregen? Auch wenn das unter Umständen nicht die ursprüngliche Intention des Autors war. Aber: die kann man ja nachlesen! Man muss kein Beton-Dogma, nichts Erratisches, autistisch Rituelles daraus machen.

Aber vielleicht meinten die beiden auch eher, dass ihnen hier in Frankfurt die basis-bildende Funktion schlicht komplett fehlt: Auslegung & Co. bittesehr ja – aber bitte durchaus auch handwerklich-solide klassische Aufführungen im konkreten Sinne des Autors.

 

Worum geht es hier:

 Jelena Popova ist seit einem Jahr verwitwet. Eine Gutsbesitzerin auf dem russischen Lande. Sie ist mittleren Alters, vielleicht um die Vierzig, kinderlos. Sie trauert um ihren Gatten, weil es einerseits so sein muss: eine Witwe trauert eben! Das gehört sich so. Andererseits scheint sie in der Trauer zu schwelgen; in ihrem Unglück aber auch in der Gewissheit, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen! Denn nach einigem Gezeter und Gejammere erfahren wir, dass ihr durchaus bewusst ist, dass der Ehemann sie grob, ja grausam behandelte und auch regelmäßig mit anderen Frauen betrog. Sie aber leidet und baut sich offenbar daran auf, ihm, diesen Grobian auch nach dessen Tode die Treue und ihn in Ehren zu halten. Eigentlich habe er das ja nicht verdient (so schwingt es mit, ohne dass es gesagt wird), aber es tröstet sie doch. Es sieht nach einer 19.-jahrhundert-typischen, bizarren Form weiblicher Rache bzw. Genugtuung aus. Uns wundert es, denn letztlich bringt sie sich ja selbst um den eigenen, kostbaren Lebensgenuss. Denn wenn sie erstmal alt und verblüht wäre, käme die Ahnung, vieles unnötig und unwiederbringlich verpasst zu haben und dann der Ingrimm, die Bitterkeit.

Auch ihr greiser Diener Luka versteht es nicht, fordert seine Herrin auf, es jetzt mit der Trauer endlich sein zu lassen, unter die Leute zu gehen, das Leben mehr zu genießen, zu feiern. Schließlich habe er um seine verblichene Frau einen ziemlich langen Monat getrauert und „jut iss“.

Da taucht ein gewisser Leutnant a.D. Smirnov auf, verschafft sich (nach Abweisung durch das Personal) doch Zutritt ins Haus und fordert aufgebracht, dass ihm 1.200 Rubel Schulden des verstorbenen Ehemannes Jelenas subito ausbezahlt würden. Alle sind entsetzt über die ungestüme, grobe Art, das wilde, zerzauste, schmuddelige Aussehen des Fordernden. Dennoch hört Lena gedanklich halb abwesend ausreichend hin und sagt ihm zu, dass ihm in den nächsten Tagen das Geld zugehe. Das Bargeld müsse ja erstmal physisch heranorganisiert werden. Smirnov aber ist verzweifelt: Die Popovs sind bereits seine letzte Option und Station. Schon am folgenden Tag würde er vom Gericht enteignet (auch er ist Grundbesitzer) und ins Gefängnis geworfen werden. Er könne nicht mehr warten! Alle anderen Schuldner hätten sich ihrer Verantwortung entzogen: entweder nicht auffindbar, oder hätten ihn abgewimmelt, verjagt, verleugnet usw. So schimpft er zunehmend wüst über Jelena und verharrt trotzig und bitter in der Wohnung. Er fühlt sich ungerecht behandelt, ja ... rücksichtslos von Snobs "verarscht". Er unterstellt ihr auch, zu heucheln (oder sogar auch sich selbst gegenüber nicht ehrlich zu sein), nicht reinen Herzens aus verlorener Liebe zu trauern. Zu verbittert ist er über Frauen und generell über verlogene, scheinheilige Menschen. Die Popva säße ja nur zuhause, trauere, laufe hübsch schwarz gekleidet im Hause herum und sich interessant und geheimnisvoll gegenüber möglichen Heiratskandidaten zu machen. Sie gefalle sich eitel in ihrer Rolle. Denn er bemerkte sofort, wie sorgfältig sie sich – trotz angeblich größter, selbstvergessener Trauer – pudere und schminke und zurechtzupfe!

Natürlich ist Jelena darüber höchst empört. Vielleicht ist sie sich aber auch tatsächlich selbst gegenüber etwas unehrlich.

Da sie den rustikal bärig-groben Typen (der nun auch die ersten Stühle zerschlägt) nicht loswird, kehrt Jelena ins Zimmer zurück und beide beschimpfen sich. Sie attestiert ihm, schlicht ungehobelt wie ein tumber gefährlicher Bär zu sein und Damen nicht gut zu behandeln weil er sie nicht verstünde und überhaupt keinerlei Manieren aufwiese. Er wiederum  legt ihr wutschnaubend dar, dass er durchaus reichlich Liebschaften hatte, durchaus Manieren besitze, er aber jetzt aufgrund WIRKLICHER Unehrenhaftigkeit, Scheinheiligkeit und blasierter Passivität in eine schreckliche Lage geraten sei und nun eben nicht mehr ihre weltfremden Befindlichkeiten achten und berücksichtigen könne: Er verlöre schlicht seinen Besitz und seine Freiheit oder gar Schlimmeres.

Schließlich bietet er ihr entnervt ein Duell an: Ihm ist sowieso alles scheißegal. Warum soll man sich auch nicht mit einer Frau duellieren können, oder?! Diese Art Frauenzimmer seien doch für Gleichberechtigung! (Wir sind im Jahr 1888 …!) Und warum sollen diese Art Frauenzimmer respektlos und ungestraft Beleidigungen und Spott ausstoßen können, ohne zur Verantwortung gezogen werden zu dürfen? Zu seiner Überraschung geht Jelena impulsiv darauf ein! Oha! Da blitzen ja Wallungen und Temperament in der Frau auf! Sie hat keine Ahnung vom Schießen, befiehlt, die Pistolen ihres Mannes zu bringen und fordert Smirnow auf, Waffen und Funktion zu erklären. Smirnow erklärt also sachlich Waffen, Unterschiede, Vorzüge, Nachteile, Wirkungsweise usw. Und im Laufe dieses Vortrags erfasst er das Absurde der Situation. Gleichzeitig ergreift ihn zunehmende Faszination: Jelena bleibt bei ihrem Entschluss, aufs Ganze zu gehen. Sehr schnell wandelt sich seine Wut in Bewunderung, Leidenschaft, ja Begierde. Er vergisst die Dringlichkeit seiner Situation, wird geradezu blind vor Verliebtheit, wirft sich ihr nahezu zu Füßen, nimmt sie schließlich in die Arme und küsst sie. Sie sträubt sich anfangs etwas, schmilzt dann aber sehr schnell dahin und erwidert seine Küsse willig und leidenschaftlich.

Die besorgte Dienerschaft erscheint mit Knüppeln und Mistgabeln um ihrer Herrin zu helfen, sieht aber das frische Paar und ist verwirrt. Ende.

 

Eine kurze satirische Komödie über Stolz, gesellschaftliche Rollenbilder, Liebe und die unbremsbare, kaum kontrollierbare Macht und Rasanz menschlicher Leidenschaften – v.a. zwischen den Geschlechtern. Eine Ironie der Gefühle, wie extrem schnell heftigste Emotionen in ihr jeweiliges krasses Gegenteil umschlagen können. Hier: ablehnende, fast tödliche Wut in Liebe, leidenschaftliches Begehren. Gesellschaftskritisch ist das Stück auch, weil es Geschlechterrollen und Konventionen zeigt und schließlich entlarvt. Popova trauert durchaus nicht aus rein unglücklich-untröstlichem Verlust heraus, sondern weil es sich so gehört und weil sie sich selbstgefällig beweisen möchte, wie sehr sie ihrem toten Mann moralisch überlegen sei. Es ist letztlich eine Pose! Absurd. Schnell "fällt sie dann um", denn tatsächlich ist sie stolz, leidenschaftlich und durchaus impulsiv. Smirnov erscheint zunächst äußerlich, der Situation geschuldet, grob und aggressiv-direkt. Tatsächlich ist er verzweifelt, verletzlich und sehnsüchtig nach Nähe – aber offensichtlich immer wieder an Frauen gescheitert: Sie verließen ihn oder er sie. Er verliebt sich also gern. Und würde vielleicht auch gern mal ankommen und angenommen werden. Denn innerlich scheint er ein eben weicher Charkter zu sein.

(Dazwischen agiert der bodenständige Lakai Luka, der da so gänzlich prosaisch-nüchtern unsentimental herangeht und gerade auch deshalb wie ein komischer Kauz wirkt.)

Charakterlich also auch aufregend: zwei sehr stolze, ausgeprägte Persönlichkeiten treffen aufeinander, bekämpfen sich aggressiv und dies kippt schließlich irgendwann sehr „urtümlich-biologistisch-körperlich“ in Lust aufeinander um. Aufregend und sinnlich! Da helfen dann auch keine Konventionen und gesellschaftlichen Konstrukte mehr: Die impulsiven Gefühle und Kräfte brechen sich Bahn.

 

Ein kurzes Stück, typisch Tschechow. Nur wenige Pinselstriche, wenige Worte. Und es reicht, um die Protagonisten zu charakterisieren und in ihnen jeweils ein ganzes, höchst interessantes Universum erahnen zu lassen. Andere Schriftsteller brauchen dutzende, hunderte Seiten und schwallen und labern nur ohne echtes Interesse wecken zu können. Die Kunst liegt auch im Weglassen, Lücken lassen, „nur“ Interesse zu wecken und eine Lust zu erzeugen, die (vermeintlichen) Fehlstellen mit eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zu füllen. So, wie man auch Wörter, ja Texte ohne viele Vokale lesen und verstehen kann, solange nur Anfangs- und Endbuchstabe bzw. die Konsonanten vorliegen. Das Hirn, die Erfahrung ergänzen erstaunlicherweise den Rest. Manchmal kommen mir auch – gewiss entfernt – die Texte Tschechows tendenziell so konstruiert vor. Und das finde ich genial.

 

Tolles kurzes lehrreiches Stück. Und ein gelungener Abend bei den beiden Mimen!